„Neukunde?“, fragt er leicht ungehalten, als er sich von dem Anblick erholt hat.
„Habe ich nicht gefragt“, trällert sie zurück. Kurz lässt Jim die Augen rollen. Natürlich hast du das nicht gefragt, warum solltest du auch? Es ist ja nicht so, als ob es ein dokumentiertes Vorgehen – eine Checkliste – gäbe. Wir haben das ja auch nicht schon tausendmal besprochen. Mensch Bea, denkt Jim, lässt sich aber nichts anmerken.
„Gibst du mir noch den Ausweis?“
„Oh, den habe ich vergessen. Tut mir leid“, gibt sie zurück. Ihre Worte sagen aus, dass sie es tatsächlich vergessen hat. Ihr Tonfall schreit geradezu: Für einen Neukunden reiße ich mir doch nicht den Hintern auf! Kannst den Ausweis selbst kopieren, du arrogantes Arschloch.
Hach, wie ich meinen Job liebe. Nach dem Namen muss ich gar nicht erst fragen, den weißt du sicherlich auch nicht. Warum auch? Verdaaaaaammt!
„Okay, danke Bea. Komme sofort!“
„Ach und Jim, er ist ein richtiges Sahneschnittchen, dein Kunde …“, flüstert sie, als sie ihm zuzwinkert und ihn alleine lässt. Er schenkt Bea ein gequältes Lächeln und konzentriert sich auf seinen Computerbildschirm. Jims Gedanken rasen. Ein Sahneschnittchen? Für eine 58-jährige Jungfer ist jeder Typ, der noch alle Zähne und Haare hat, ein Sahneschnittchen. Wuahahaha. Halte durch Jim, halte durch. Du liebst diesen Job, denk daran! Mit dieser Gewissheit steht er auf, zieht die Krawatte stramm, wirft ein Atemfrisch ein, richtet seinen Anzug und verlässt sein Beratungszimmer. Jeden Tag die gleichen idiotischen Gespräche, jeden Tag, die gleichen Menschen, die kaum Deutsch sprechen, keinen Job haben und Sozialhilfe beziehen. Dennoch – oder gerade deswegen – wollen sie einen ungedeckten (!) Kontokorrentkredit und eine Kreditkarte haben. Jedes Mal muss sich Jim verteidigen, die Richtlinien der Bank vertreten und den Kopf hinhalten. Zum Glück, versteht er jeweils nicht alles, was ihm die Sozialhilfeempfänger an den Kopf werfen.
Er marschiert in Richtung der Wartezone, dort wo die Kunden gewöhnlich wie Legehennen auf den Stühlen verharren und genervt vor sich hin gackern, weil sie – angeblich – so lange warten müssen. Wo ist meine Motivation?! Wer hat meine Motivation gesehen? WO IST SIE?! Ach du heilige Scheiße! Jim macht einen Ausfallschritt und muss sich konzentrieren, um nicht über seine dunklen Designerschuhe zu stolpern. Das kann nicht sein, oder? Da wartet nur eine Person. Und was für eine.
Der Mann ist … ein Traum!
Er ist vertieft in sein Smartphone, tippt wild auf dem Bildschirm herum und scheint total abwesend zu sein. Das gibt Jim die Möglichkeit, den Typen genauer zu studieren. Lange, schlanke Beine, die in einer genialen schwarzen Jeans stecken. Schmale Hüften, schlanker Oberkörper und leicht muskulöse Oberarme. Kurze, dunkelblonde Haare, die er frech durchgewuschelt hat. Das weiße Hemd ist so eng, dass man sogar die Nippel unter dem Stoff erahnen kann. Er hat sogar einen schmalen, schwarzen Schlips angezogen. Hot. Bea hat nicht übertrieben: Sahneschnittchen hoch zehn! Bevor es noch peinlicher wird, klappt Jim seinen Mund zu, nimmt Haltung an und spricht den Kunden an:
„Guten Tag. Sie möchten ein Konto bei unserer Bank eröffnen?“
Der Kunde sieht auf, mustert Jim für einen Moment, der sich ein wenig zu lang hinzieht. Jims Knie werden weich wie Pudding. Dieser intensive Blick mit diesen bernsteinfarbenen Augen lässt seinen Atem stocken. Dieser Ausdruck, das markante Kinn, die perfekt definierten Augenbrauen. Wow. Ein strahlendes Lächeln erhellt das Gesicht des Mannes, bevor er aufsteht und seine gepflegte Hand ausstreckt.
„Genau, guten Tag. Mein Name ist Sasha Friedrich.“
„Sehr erfreut, äh – ich – ähm –Jim – Jim Decker“, stammelt er wie ein Vollidiot, als sich ihre Hände berühren. Warm, vertraut und einladend. Beatrix, die das Ganze vom Empfangstresen aus beobachtet, scheint Gefallen daran zu finden. Ihr hochfrequentes Kichern schallt durch die Schalterhalle, um alle wartenden Kunden auf die Männer aufmerksam zu machen.
„Ebenfalls erfreut“, zwinkert der Kunde. Die beiden stehen sich gegenüber aber keiner rührt sich. Der Kunde räuspert sich und meint leise: „Wohin?“
„Hä?“
„Wo lang geht es in Ihr Büro?“
„Oh, entschuldigen Sie bitte. Folgen Sie mir … ähm … bitte, also … ähm … in mein Büro! Hier entlang!“ Jims Wangen glühen. So etwas ist ihm noch nie passiert. Verdammt, wo bleibt meine Professionalität? Wohin hat sich das jahrelange Verhaltenstraining verkrümelt? Wo ist meine coole Art abgeblieben?, fragt er sich. Alles ist verpufft, als er diesen hinreißenden jungen Typen sah. Es ist, als ob sein Hirn leergefegt wurde. Delete. Mit hochrotem Kopf geht Jim voraus, führt den Kunden in sein kleines Büro, in dem er die Kontoeröffnungen durchführt. Erste Schweißperlen glitzern auf seiner Stirn, sein Hemd ist plötzlich viel zu eng, die Krawatte zu fest. „Bitte, nehmen Sie Platz“, versucht er es professioneller wirken zu lassen.
„Danke“, meint Sasha und schenkt Jim ein Lächeln, das diesem direkt in die Anzughose schießt. Er setzt sich hin, um seine Erregung zu verbergen. Er schließt kurz die Augen, atmet tief ein und aus und findet damit seine Normalform wieder.
„Also, Herr Friedrich, Sie möchten ein Konto bei uns eröffnen. Haben Sie sich denn schon Gedanken über die Art des Kontos gemacht?“
„Ich bräuchte ein Girokonto und eine Kreditkarte. Was bieten Sie mir dazu für einen Service?“, feixt der Kunde und zieht die eine Augenbraue hoch. Wie sexy ist das denn? Sasha sieht Jim lüstern an. Ein schiefes Grinsen erhellt sein Gesicht. Dieser Kundenberater ist ja sowas von sexy. Was sich wohl unter diesem biederen, grauen Anzug verbirgt? Das weiße Hemd dehnt sich ja schon mal an den richtigen Stellen und dieses Gesicht ist der Hammer!, denkt Sasha, als er auf Jims Reaktion wartet. Sieh‘ dir nur mal diese Kinnpartie an, die starken, gepflegten Hände. Was er damit wohl alles anstellen kann? Reiß‘ dich zusammen, Sasha!
„Das Girokonto kostet fünf Franken pro Monat. Die Kreditkarte 100 Franken im Jahr. Sie können damit überall Geld …“, fängt Jim an, bevor er unterbrochen wird. Sasha kann sich nicht zusammenreißen und geht in die Offensive.
„Weißt du, Herr Decker, wie egal mir das alles ist? Ich will wissen, was für einen After Sales-Service du mir bietest, wenn ich das Konto hier eröffne?“, schnurrt Sasha. Er betont die Worte ‚After‘ und ‚du‘ mehr als die anderen.
Bam!
Sasha beißt sich auf die Unterlippe und sieht Jim erwartungsvoll an, während ein keckes Lächeln seinen Mund umspielt. Er zieht die Augenbrauen hoch. Erotik in ihrer reinsten Form. Jim wird es jetzt definitiv zu heiß. Er öffnet den obersten Knopf seines weißen Hemdes und lockert die Krawatte.
„Sie machen mich fertig“, schnaubt Jim, als er den Kunden fixiert. Jetzt ist das Spiel eröffnet und er spielt es ebenso gut wie Sasha. Dennoch ist er froh, dass der Kunde den ersten Schritt gewagt hat. Jim ist Kundenberater und seine Möglichkeiten in dieser Funktion sind mehr als eingeschränkt. Er will ja nicht gefeuert werden, weil er Kunden anbaggert. „Sie kriegen von mir …“
„Sasha und Du, bitte!“