Maximilian Vogt liegt auf seiner apfelgrünen Couch im Wohnzimmer. Für ihn hat dieses Fest nichts mit Freude, Barmherzigkeit oder Liebe zu tun. Das Gegenteil ist der Fall: Für ihn ist es die Zeit, in der ihn seine Schuldgefühle zu erdrücken drohen und er sich am liebsten vor der Welt verstecken würde. Als es an der Tür klingelt, schreckt er aus seinen trüben Gedanken hoch. Er starrt genervt auf die Uhr und schüttelt entrüstet den Kopf. Besuch, um diese Zeit? Wer kann das sein? Schließlich erwartet er niemanden. Trotzdem, er steht auf und stelzt zur Eingangstür – seine Knochen sind vom langen Liegen steif. Ein flüchtiger Blick durch den Türspion verrät ihm, dass vier Kinder vor seiner Tür warten. Mädchen mit batteriebetriebenen Kerzen, einem Plakat, Flyern und buntem Backwerk in einem Körbchen. Kurz überlegt er, einfach so zu tun, als ob niemand da ist. Wie infantil. Er schließt auf und zieht die Tür einen Spalt breit auf. „Ja?“, murrt er abweisend.
„Guten Abend. Wir kommen von der karitativen Einrichtung ‚Kinder bringen Waisen ein Licht’. Das ist eine Organisation, die das Miteinander fördert. Wir wollen die Waisenkinder, die im Heim leben, in der Weihnachtszeit besuchen und Zeit mit ihnen verbringen“, plappert das kleinste Mädchen mit ihrer Singsangstimme drauflos. Dabei blitzen ihre weißen Zähne mit dem Metall ihrer Zahnspange um die Wette. Sie deutet auf das selbst gemalte Plakat. Man spürt förmlich, dass sie diesen Text auswendig gelernt hat und ihn zum gefühlt hundertsten Mal an diesem Abend herunterleiert. Bei keinem jungen Mädchen gehört ‚karitative Einrichtung’ zum Standardvokabular, davon ist Maximilian überzeugt.
„Wir wollten Sie fragen, ob Sie uns einen selbstgemachten Kuchen abkaufen. Mit dem Geld besorgen wir den Kindern im Kinderheim Geschenke und verbringen mit ihnen den Weihnachtsnachmittag“, meldet sich das größte Mädchen zu Wort und blickt Maximilian mit einem zuckersüßen Lächeln an. Sie überragt die anderen Schülerinnen mindestens um einen Kopf.
„Wir machen das schon zum vierten Mal“, näselt die dritte im Bunde. Maximilian lässt seinen Blick über die seitlichen Zöpfe des Mädchens gleiten, die ihr zartes Gesicht umrahmen. „Es kommt sehr gut an. Wir verbringen gerne Zeit mit den Kindern vom Heim. Die sind total lieb und freuen sich, wenn wir kommen.“
„Ja und wir spenden auch einen Teil unseres Taschengelds, damit wir für die Kinder im Waisenhaus eine Überraschung kaufen können“, proklamiert die Vierte stolz. Damit ist das Verkaufsgespräch abgeschlossen – ein Verkaufstrainer wäre verdammt stolz. „Ein Stück Kuchen für Sie?“, fragt das vierte Mädchen und drängt damit zu einem erfolgreichen Abschluss. Maximilian mustert die Mädchen einen Moment lang, bevor er sich räuspert.
„Nein, danke. Ich mag keinen Kuchen“, antwortet er bedauernd und versucht augenblicklich die Tür zu schließen. Aber das große Mädchen lässt sich nicht abwimmeln.
„Es ist bald Weihnachten, das Fest der Liebe und es ist für einen guten Zweck“, wirft sie mit einer von Vorwürfen triefenden Stimme ein.
„Die Kinder im Waisenhaus haben doch niemanden mehr“, bekräftigt die Kleinste mit weinerlicher Stimme. Maximilian verdreht die Augen.
„Ich habe auch niemanden. Bringt ihr mir dann Geschenke?“ Die Mädchen schütteln einhellig den Kopf. „Na also, dacht ich’s mir doch“, damit schlägt er die Wohnungstür zu und verriegelt sie von innen. Gut, das war nicht gerade subtil und doch erreicht er damit sein Ziel. Durch den Türspion beobachtet er, wie sich die Mädchen verdutzt ansehen und schimpfend zur nächsten Tür im Haus weiterziehen. Maximilian kehrt erleichtert in sein funktionell eingerichtetes Wohnzimmer zurück. Er hat Weihnachten konsequent aus seiner Wohnung verbannt. Nirgends brennt eine Kerze, er hat nicht dekoriert und keine Kekse gekauft.
Nichts erinnert an das bevorstehende Fest der Liebe.
Ihm ist nicht nach feiern. Schon lange nicht mehr und das dürfte sich auch so schnell nicht ändern. Zu qualvoll sind die Wunden in seinem Herzen auch nach drei Jahren noch. Er hasst die Konsumsucht, die Völlerei und die gespielte Barmherzigkeit der Menschen, die besonders in dieser Jahreszeit zum Vorschein kommen. Maximilian versinkt in den Kissen seiner Couch und schaltet die Flimmerkiste ein. Ein von Explosionen und wilden Verfolgungsjagden gespickter Actionfilm fesselt ihn, bis er sich um dreiundzwanzig Uhr ins Bett schleppt.
Er sinkt in einen unruhigen Schlaf.
Mitten in der Nacht schreckt er alarmiert hoch. Seine Stirn ist schweißnass und sein Puls rast. Er versucht sich im Halbdunkel seines Schlafzimmers zu orientieren. Draußen herrscht eine bizarre Stimmung, wie er durch die halbgeschlossenen Lamellen der Jalousie ausmachen kann. Er steht auf, reibt seine müden Augen und tappt ans Fenster. Der Himmel ist in ein seltsames Rot gehüllt und die Straßenlaternen erhellen die samtig weichen Flocken, die seit Stunden ununterbrochen zu Boden fallen. Eine kaum merkliche Bewegung auf der Straße zieht Maximilians Aufmerksamkeit auf sich. Er reibt sich schlaftrunken über die müden Augen und vergewissert sich, dass da niemand ist. Für einen kurzen Moment dachte er doch tatsächlich, dass er Nevio gesehen hat.
Pure Einbildung.
Denn das ist unmöglich und höchstwahrscheinlich seiner Übermüdung und dem immer näher rückenden Jahrestag des Dramas zuzuschreiben. Mit einer kurzen Bewegung schließt er die Lamellen ganz und legt sich zurück ins Bett. Doch an Schlaf ist nicht mehr zu denken. Seine Gedanken überschlagen sich. Er findet keine Ruhe. Genervt stöhnend steht er auf, um sich in der Küche einen beruhigenden Tee zu kochen. Eine halbe Stunde später kriecht er todmüde zurück unter die Decke und gleitet kurz darauf in einen traumlosen Schlaf.