Bauernliebe
Gay Romance
“Stadtmensch trifft auf Hinterwäldner, mit dieser köstlichen Geschichte , hat Marc Weiherhof sich selbst übertroffen.” anonym
Inhaltsangabe
Joaquin, kurz Jo, lässt das hektische Großstadtleben hinter sich, um sein großes Liebesglück mit Ralf zu finden, den er übers Internet kennengelernt hat. Die Männer könnten unterschiedlicher nicht sein – der eine ein verwöhnter Schweizer auf Stellensuche und der andere ein bodenständiger Landwirt aus Bayern – und dennoch verbindet sie ein mächtiges Gefühl. Die Liebe. Jos Ankunft auf dem Bauernhof ist für alle Beteiligten ein Kulturschock, der nicht ohne Probleme abläuft.
Begleite die Männer auf ihrem Weg in ein hoffentlich gemeinsames Leben und erfahre, wie sich Liebe über Konventionen hinwegsetzen kann.
Eine humorvolle Gay Romance-Kurzgeschichte mit 20.000 Worten, also ungefähr 87 Seiten. Bayrische Passagen runden die Geschichte ab und verleihen Authentizität.
“Bauernliebe besticht mit einen flüssigen, spritzigen sowie humorvollen Schreibstil. Die erotischen Szenen hat Marc Weiherhof sinnlich beschrieben. Der an einigen Stellen passend eingeflochtene Schweizer Dialekt sowie der Bayrische Dialekt verleihen der Geschichte einen unwiderstehlichen Charme.” Lesetiger
Leseprobe
~ Jo ~
Jo – also eigentlich Joaquin, aber wer heißt schon so? – hat lange auf diesen einen Tag gewartet. Jetzt ist er da. Endlich wird er zu seinem Freund Ralf ziehen, um mit ihm das langersehnte gemeinsame Leben zu beginnen, probeweise zumindest. Jos Mutter hat ihn eindringlich davor gewarnt, eine derart wichtige Entscheidung in jugendlichem Leichtsinn und ohne vorheriges Probewohnen zu treffen. Wochenlang hat sie ununterbrochen auf ihn eingeredet, bis er schließlich vor ihrer Hartnäckigkeit kapituliert und das definitive Ausziehen auf unbestimmte Zeit verschoben hat. Vorerst wird er für ein paar Wochen bei Ralf wohnen, bevor sie sich entscheiden.
Zweifel? Keine.
Die beiden Männer kennen sich aus dem Internet und haben sich viermal getroffen – es war Liebe auf den ersten Klick – sozusagen. Seit diesem ersten Chat vor sechs Monaten ist viel passiert: Jo hat die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen, bei der Abschlussfeier das Auto des Klassenlehrers mit Klopapier eingewickelt, sich erfolglos für Banklehrstellen beworben und er hat sich endlich bei seinen Eltern geoutet. Obwohl es ihm viel Kraft und Mut abverlangte, verlief das Outing erstaunlicherweise problemlos. An einem Abend hat Jo seine Eltern im Wohnzimmer zusammengetrommelt und ihnen feierlich verkündet: „Mama, Papa … ich bin schwul!“ Seine Mutter war alles andere als überrascht und kreischte: „Ich hab’s schon immer gewusst!“ Sie nahm ihren 20-jährigen Jungen in die Arme und presste ihm einen dicken, feuchten Kuss auf die Wange, den Jo sofort wegwischte. „Danke, dass du es uns sagst“, schob sie nach. Jos Vater indes reagierte verhaltener. „Du bist … schwul?“, fragte er flüsternd. „Denkst du nicht, dass es nur eine Phase ist? So junge Menschen können doch noch gar nicht wissen, was sie vom Leben erwarten.“ Jo hat seinem Vater geduldig aber überzeugend erklärt, dass es bei der sexuellen Orientierung keine Phasen gibt und dass er sich schon lange sicher ist. Jos Mutter unterstützte ihn mit viel zu enthusiastischem Nicken, verpasste ihrem Ehemann einen spielerischen Schlag auf den Oberarm und setzte dem Outing die Krone auf: „Thomas, also wirklich. Er ist schwul. Na und? Wenn er so gut blasen kann wie ich, dann wird er einige Jungs sehr glücklich machen.“ Mit großen, fassungslosen Augen starrte Jo seine Mutter an, während das Gesicht seines Vaters feuerrot zu leuchten begann – ob es nun aus Scham oder Wut war, würde Jo wohl nie erfahren. Als Jos Vater zu realisieren begann, dass sein Sohn bereits Sex haben könnte, folgten lange, zermürbende Gespräche, verletzender Streit, eisiges Schweigen und schließlich zögerliche Annäherung. Mittlerweile hat Thomas akzeptiert, dass Jo schwul ist und seine Sexualität erforscht.
Das heute, ist was ganz anderes! Dass Jo 375 Kilometer weit weg nach Deutschland fährt, um zu testen, ob er mit Ralf glücklich werden kann, macht den Eltern schwer zu schaffen – mehr noch als es Thomas anfangs zusetzte, dass er einen schwulen Sohn hat. Rückblickend müssen beide Elternteile eingestehen, dass sie die verräterischen Zeichen ignoriert haben. Jo war schon immer anders, als Jungs in seinem Alter: Er kleidet sich modisch, legt Wert auf gutes Aussehen, ist affektiert, liebt Klamotten, Germany’s Next Topmodel und Justin Bieber. Mit Fußball, Fischen und Autos konnte er noch nie etwas anfangen. Freundinnen brachte er auch nie mit nach Hause. Also eigentlich hätten die Eltern darauf vorbereitet sein müssen. Aber mal ehrlich, wer rechnet schon wirklich damit? Und jetzt will er auswandern. Nach Bayern, zu einem älteren, schwulen Mann auf einen Bauernhof. Mit 20 Jahren! Ein riesiger Schock, der den liebenden Eltern tief in den Knochen sitzt. Aber was sollen sie tun? Es wird Zeit, das Kind eigene Entscheidungen treffen zu lassen.
„Ich freu mich riesig auf dich und dass ich bald ganz lange bei dir sein kann, mein Schatz. Heute Nachmittag ist es endlich soweit. Ich habe heute Nacht vor lauter Aufregung ganz schlecht geschlafen“, nuschelt Jo in sein Smartphone, während er im Bett liegt und mit Ralf telefoniert. Der Montagmorgen ist angebrochen – nur noch ein paar Stunden trennen die Liebenden voneinander. Raaaalf, Jo lässt sich den Namen seines Angebeteten wie Zartbitterschokolade auf der Zunge zergehen. Er verzehrt sich so sehr nach dem Mann seiner feuchten Träume, dass es ihm seelische Schmerzen bereitet, wenn sie länger als einen Tag nicht telefonieren oder sich schreiben. Jos Hand wandert unter die Decke in seine Pants, wo er sich sanft streichelt. „Ja, ist gut. Ich freue mich auch auf dich. Wirklich. Mach’s gut. Tschüss. Bis später … tschüss. Ralf, ich liebe dich“, damit beendet Jo widerwillig das Gespräch und sieht sich in seinem Jugendzimmer um. „Das wird das letzte Mal sein, dass ich mir hier einen runterhole“, flüstert er und macht sich ans Werk.
Abschiedswichsen.
Er schlägt die Decke zur Seite und befreit sein bettelndes Glied aus dem weichen Baumwollstoff. Mit geschickten Bewegungen verteilt er die Lusttropfen auf seiner Eichel und massiert sich schneller. Er denkt dabei an Ralf, dessen Körper, die Berührungen und Küsse, die sie in einem Hotel bei Konstanz geteilt haben. In Jos Hoden und Lenden stellt sich nach kurzer Zeit das wohlbekannte Ziehen ein und er spürt, wie ein gewaltiger Orgasmus in seinem Körper aufflammt, um ihn wie eine Sturzflut mitzureißen.
„Bist du dir sicher, Jo?“, fragt seine Mutter, als sie ohne anzuklopfen ins Zimmer platzt. Erschrocken atmet Jo viel zu laut ein und kaschiert sein feuchtes Glied mit der Bettdecke. Verzweifelt versucht er die naturgewaltige Eruption zu verhindern. Er atmet schwer und erlangt die Fassung nur langsam zurück.
„Mami!“, schnauzt Jo entsetzt. „Du kannst doch nicht einfach ohne anzuklopfen hereinplatzen!“, zischt er, als sich seine Mutter aufs Bett setzt. Mit schockgeweiteten Augen und hochroten Wangen schaut er zwischen seiner Mutter und der beachtlichen Ausbeulung der Decke hin und her. So etwas Peinliches ist ihm noch nie passiert. Er hat die Tür nicht verschlossen, eine Vorsichtsmaßnahme, die ihm solche Missgeschicke bisher ersparte. Die sündhaften Gedanken an Ralf, machen ihn scheinbar unvorsichtig.
Ein schwerer Fehler.
„Entschuldige Schatz. Willst du es dir nicht nochmal überlegen? So weit wegziehen, zu einem Mann, den du aus dem Internet kennst. Also wirklich.“
„Nein! Und jetzt lass mich allein!“, drängt Jo seine Mutter, stößt sie beinahe vom Bett.
„Ist ja gut. Du hast eine Laune heute Morgen. In ein paar Minuten gibt es Frühstück. Schau zu, dass du aus dem Bett kommst, junger Mann!“, meint Jos Mutter, bevor sie das Zimmer verlässt und die Tür hinter sich zuzieht. Jo lässt sich erleichtert ins Kissen fallen, schlägt die Decke zur Seite und sieht seinen erschlafften Penis an. Vor lauter Schreck ist dieser wie eine Dörrpflaume zusammengeschrumpelt.
„Entschuldigung, mein Kleiner“, flüstert er, bevor er laut herauslacht. Er steht auf und macht sich für einen aufregenden Tag bereit.
Wenig später steht die kleine Familie vor einem klapprigen VW Golf, mit dem Jos bester Freund Hugo vorgefahren ist. Die Eltern schauen bedrückt zu Boden, während Jo nervös und freudig von einem Bein aufs andere tänzelt. Er kann kaum ruhig stehen. Ob es dieser Schrotthaufen überhaupt nach Bayern schafft, steht in den Sternen – aber das ist ein Problem, das die jungen Männer lösen, wenn es auftritt. Hugo schwört auf sein Auto und toleriert keine Witze darüber.
„Willst du nicht doch lieber hier bleiben?“, unternimmt seine Mutter einen letzten Versuch. In ihrer Stimme schwingt bittere Traurigkeit, aber auch Besorgnis mit.
„Ja, Mami, das hab ich dir doch schon ein paar Mal gesagt. Ich habe so lange auf diesen Moment gewartet. Er ist der Richtige und ich will mein Leben mit ihm verbringen. Außerdem ist es – dank dir – nur auf Probe!“, verteidigt sich Joaquin und lächelt seine Mutter mitfühlend an. Er kann sich sehr gut vorstellen, wie sie sich fühlen muss. Aber im Moment überwiegt seine Vorfreude. Er hat sich vorgenommen, nicht zurückzuschauen, sondern in eine strahlende Zukunft mit dem Mann, den er liebt.
„Ach, mein Schatz. Ich liebe dich! Melde dich, wenn ihr angekommen seid, ja?“, flüstert sie mit Tränen in den Augen.
„Ja, mache ich. Ich habe dich auch lieb.“ Damit gibt er seiner Mutter ein Küsschen auf die Wange und nimmt sie in den Arm. Schluchzer entweichen ihr. Er streicht ihr sachte über den Kopf und drückt sie fester an sich. Es tut gut zu wissen, dass man ein Zuhause hat, in dem man immer willkommen ist. Menschen, die einen lieben. „Es wird schon schief gehen, Ma.“ Seine Mutter nickt hoffnungsvoll und sieht ihren Sohn liebevoll an. Jo dreht sich zu seinem Paps und verabschiedet sich von ihm. Sein Vater kann mit Gefühlen nicht umgehen, hat es wohl nie gelernt. Doch auch ihm sieht man an, dass es ihn bedrückt, dass der geliebte Sohn so früh flügge wird und von Zuhause auszieht. Die beiden umarmen sich steif und zurückhaltend – Man(n) will ja nicht zu viele Emotionen zeigen. „Ich melde mich, wenn ich angekommen bin!“ Schwungvoll steigt Jo in den Golf, schlägt die klapprige Tür zu und Hugo fährt los. Knatternd rollt der Wagen die Straße hinab und pufft eine dunkle Rauchwolke in den frühmorgendlichen Himmel. Die Eltern bleiben zurück und sehen ihrem Sohn nach, bis das Auto hinter einer Kurve verschwindet.
„Soll ich nicht lieber fahren. Du musst ja den ganzen Weg wieder zurückfahren!“, erkundigt sich Jo bei seinem deutschen Freund, der vor mehr als acht Jahren in die Schweiz zog.
„Nein, lass mal. Denkst du wirklich, dass ich dich mit diesen Schuhen ans Steuer lasse? Ich weiß ja, wie du fährst … das will ich mir nicht antun“, feixt Hugo. Jo sieht ihn pikiert an. Mit akrobatischen Bewegungen manövriert Jo seinen rechten Stiefel auf das linke Knie.
„Blödmann. Die sind doch genial, gib es zu“, entgegnet Jo, als er mit seinem Zeigfinger über die glatte, lederne Oberfläche an den Seiten der Absatzstiefel fährt.
„Das sind Frauenstiefel!“
„Nein, du Dummerchen, das sind einfach Stiefel! Sie sehen geil aus und wenn du nicht aufpasst, trete ich dir damit in den Hintern. Apropos: Hast du schon mal gesehen, was diese Absätze mit meinem Knackarsch machen?“, fragt Jo lächelnd.
Hugo schüttelt resignierend den Kopf.
Fünf Stunden dauert die Fahrt über Autobahnen und Hauptstraßen. Als sie den deutsch-schweizerischen Zoll passieren, wird Jo schlagartig bewusst, dass er in Zukunft in Deutschland leben wird, wo er den ganzen Tag hochdeutsch sprechen und in Euro bezahlen muss. Aber das macht ihm nichts aus, denn er hat ja seinen Ralf. Außerdem sind die Bayern ein lebenslustiges und freundliches Völkchen. „Können wir eine kleine Pinkelpause machen?“, unterbricht Jo die Stille im Wagen.
„Schon wieder?“
„Jaha … es tut mir ja leid, dass ich so nervös bin.“
„Mensch, Mensch. Ich halte am Straßenrand, da kannst du in die Büsche pullern“, schlägt Hugo vor. Es wird still im Auto. Hugo sieht Jo an. Purer Schock steht in seinem Gesicht geschrieben. „Gott, Jo, du bist so verwöhnt. Unglaublich. Also gut, ich halte an einer Raststätte. Du hast gewonnen“, beschwichtigt Hugo seinen Freund und setzt bei der nächsten Ausfahrt den Blinker.
Es wird nicht die letzte Pinkelpause gewesen sein.
Die Fahrt führt sie auf der Ringautobahn an München vorbei, immer tiefer nach Oberbayern. Während der Verkehr rund um die Metropole zähflüssig war, wird er nun immer spärlicher. Wohnquartiere weichen ausgedehnten Feldern und dichten Wäldern. Die Natur erwacht indes langsam zum Leben: Blätter, Blüten und Bäume recken sich der sanften Frühlingssonne entgegen, laben sich an ihren zärtlichen Strahlen.
„Da ist es, Schliertal!“, ruft Hugo plötzlich und reißt Jo damit aus seinen Tagträumereien. Er ist dabei, seine Nägel zu feilen und zu maniküren. „Das ist ja ländlich hier.“
„Stimmt, unglaublich. Ich schnapp über“, staunt Jo, als er aus dem Fenster starrt. „Ralf hat mir zwar gesagt, dass sein Hof von viel Natur umgeben ist, ich dachte aber eigentlich, dass es näher an München ist.“
„Sein … Hof?“, erkundigt sich Hugo erstaunt. Jo kneift die Augen zusammen. Damit wollte er noch nicht rausrücken.
„Ja, er hat einen Bauernhof mit Hühnern, Kühen und …“, führt Jo aus, als er mit der Nagelfeile das letzte Mal über seinen frischmanikürten Fingernagel gleitet. Hugo bricht in schallendes Gelächter aus. Er muss sich schwer konzentrieren, um den Golf in der Spur zu halten. Tränen laufen über seine Wangen, die er fahrig wegwischt, während sich sein Lachanfall noch steigert. „WAS?!“, will Jo vorwurfsvoll und gekränkt wissen.
Seine Stimme schwingt einige Oktaven höher als normal.
„Nichts … das … haha … ich … ich meine … du … Queen Joaquin … zieht … zieht auf einen Bauernhof in die Pampa? Wirklich? Das … das ist zu herrlich … ich … ich … krieg mich gar nicht … nicht mehr ein!“, presst Hugo hervor. „Mach Beweisfotos, ja?“
„Jaja, danke dir. Sehr aufmunternd. Und sowas nennt sich Freund!“
„Wuhahaha … Jo aufm Bauernhof! Ich meine, dass ist wie ein Barbiepüppchen im Knast. Das geht ja gar nicht! Oder ein Bauarbeiter in einem Porzellanladen. Wuhahihihihi.“
„Mensch, halt doch die Klappe! Das geht sehr wohl … ich … er … das ist alles gar kein Problem“, verteidigt sich Jo, mittlerweile stinksauer, als er seine Frisur im kleinen Kosmetikspiegel, der in der Sonnenblende eingelassen ist, richtet und Hugo wütend anfunkelt.
„Entschuldige.“ Hugo ist Jos Stimmungsumschwung nicht entgangen, weshalb er sich selbst und seinen Freund zu beruhigen versucht. Es fällt ihm schwer, aber so langsam schafft er es, sich wieder aufs Fahren zu konzentrieren und nicht mehr von Lachkrämpfen geschüttelt zu werden. Der Dorfkern von Schliertal ist so klein, dass ihn eine Schnecke in fünf Sekunden durchquert hat. Es gibt eine Metzgerei, einen Bäcker, einen kleinen Lebensmittelladen und eine Kirche.
Das war’s.
Jo sieht aus dem Fenster und erstarrt irritiert. Irgendetwas ist merkwürdig. Er kann es nicht erklären, aber … und plötzlich springt es ihn an, wie ein Frosch aus dem Teich: Trachten. Die Frauen tragen farbenfrohe Dirndl, die ihr Dekolletee noch üppiger erscheinen lassen. Schimmernder Taft, aufwendig gearbeitete Borten und Schürzen. Die Herren tragen Lederhosen, Trachtenhemden und Haferlschuhe. Jo sieht beiläufig an sich runter. Er trägt ziemlich enge Bluejeans mit Rissen an den richtigen Stellen. Sein dünner, weißer Kapuzenpullover hat einen derart tiefen Ausschnitt, dass man Jos haarlose Brust sieht und unweigerlich auf das Wolfszahn-Imitat schauen muss, das an einer Kette baumelt. Seine mit Kunstpelz geschmückte Jacke ist ebenfalls ziemlich extravagant und liegt auf der Rückbank bei Jos Koffern. Hugo prustet erneut los, als er Jos Gesichtsausdruck einfängt und sein Blick ebenfalls über die Gestalt seines besten Freundes gleitet. „Du bist der Beste, Jo. Einmalig! Darf man Wetten abschließen, wie lange du es hier aushältst? Wie weit kommst du wohl mit deinen Absatzstiefelchen?“ Mit einem dumpfen Geräusch schlägt Jos Handfläche auf dem Hinterkopf seines besten Freundes auf. „Aua.“
„Ohne Worte, Hugo. Ohne Worte!“
Das Navigationssystem lotst die beiden durch die engen Gassen der Gemeinde in Richtung eines Bergtals. Die Häuser werden seltener, die Straßen schmaler und deren Zustand schlechter. Die Berge erheben sich majestätisch aus der Umgebung und flankieren das Tal von beiden Seiten. Nach einem weiteren Kilometer biegen sie auf eine holprige Flurstraße ab.
„Bist du sicher, dass es hier ist?“, will Jo erschrocken und skeptisch wissen. Hier gibt es nichts. Nichts außer beinahe unberührter Natur. „Du hast sicher den Straßennamen falsch eingegeben. Deinetwegen komme ich jetzt zu spät zu meinem Ralf … das … ich … das kann es nicht sein … schau noch mal nach“, empört sich Jo und beginnt zu hyperventilieren.
„Ruhig, Brauner. Es ist hier, da bin ich mir ganz sicher. Sieh mal auf das Display des Navis: Dorf, Überlandstraße, Wald, Hof! Es ist nicht mehr weit …“, bestätigt Hugo ihren Weg und schüttelt genervt ob Jos kindlichen Vorwürfen den Kopf. Verdammte Diva, murrt er innerlich. Die Schotterpiste führt sie bergauf. Der Regen und die Zeit haben große Schlaglöcher aus dem Belag gewaschen, sodass die beiden nur Schritttempo fahren können. Die Insassen werden richtiggehend durchgeschüttelt. Übelkeit und Kopfschmerzen machen sich bei ihnen breit. Sie durchqueren das Waldstück. Die Bäume sind so mächtig und hoch, dass beinahe kein Licht auf den Weg fällt. Moosüberzogene Steine bevölkern den Boden und vermodernde Baumstrünke bieten Versteckmöglichkeiten für Waldtiere.
Jo starrt verzweifelt aus dem Fenster.
Seine Gedanken rasen. Auf seiner Schulter tauchen zwei Gestalten auf, materialisieren sich mit einem leisen ‚Puff‘. Ein Engelchen auf der einen Seite und ein Teufelchen auf der anderen. Das Engelchen zupft an seiner Harfe, lässt himmlische Klänge ertönen und flüstert mit sanfter, heller Stimme: „Das wird super, Jo. Natur und saubere Luft. Du und dein Ralf werdet zusammen glücklich sein. Du kannst dich auf ein außergewöhnliches Abenteuer freuen.“ Das Teufelchen rammt seinen brennenden Dreizack in Jos Schulter und brüllt bedrohlich mit tiefer Stimme: „Der hat dich verarscht! Ralf ist ein Betrüger und du ein Idiot. Hättest du doch nur auf deine Eltern gehört, du Waschlappen!“ Jo schüttelt den Kopf, und lässt die Erscheinungen wie Seifenblasen zerplatzen. In diesem Moment lichten sich die Bäume und die Freunde fahren auf eine Ebene. Etwa zweihundert Meter vom Wald entfernt thront der Bauernhof, wie ein roter Leuchtturm in der einzigartigen Landschaft des Tals. Sie fahren auf einen Kiesplatz vor dem Hof. Hugo stellt den Motor aus und saugt zusammen mit Jo die einmalige Stimmung dieses Ortes in sich auf: Ländliche Idylle, freie Natur, saubere Luft, Abgeschiedenheit und ein einfaches Leben. Wie abgesprochen, seufzen beide gleichzeitig und beginnen danach zu lachen – zu herrlich dieser synchrone Gefühlsausbruch. Der Bauernhof besteht aus mehreren Ställen, einem altertümlichen Wohnhaus, einem Silo und weiteren Gebäuden.
Ein roter Traktor komplettiert die Idylle.
„Danke, Hugo, dass du mich hergebracht hast“, flüstert Jo, als er seinem Freund ein Küsschen auf die Wange haucht.
„Gern geschehen.“
„Denkst du wirklich, dass ich es nicht schaffe?“
„Ach Jo … ich denke, dass du dich überall anpassen kannst. Also auch hier. Du hast deinen Ralf und das ist das Wichtigste. Oder?“
„Das stimmt schon.“ Jo öffnet die Tür und steigt zögernd aus. Als seine Absatzstiefel den Kies berühren und er sich aus dem Wagen erhebt, wird ihm eines schlagartig bewusst: In diesem Dorf und auf diesem Hof fällt er auf wie ein bunter Hund. Aber das ist ihm egal. Er ist wie er ist und seit er sich bei seinen Eltern geoutet hat, versteckt er sich nicht mehr. Von der Rückbank angelt er seine warme Jacke und kuschelt sich hinein. Staunend sieht er sich um und kann es nicht fassen. Dass es so abgeschieden und einfach ist, das hat Ralf mit keiner Silbe erwähnt.
Nie.
Aus der Scheune rennt ein laut bellender Hund auf die Neuankömmlinge zu und reißt Jo aus seinen Grübeleien. Ein kurzhaariger Berner Sennenhund namens Strolchi – wie Ralf ihm erzählt hat. Jo kniet sich hin, begrüßt den mit dem Schwanz wedelnden Hund und krault seinen Kopf. Jo starrt auf die Gebäude, während er Strolchi gedankenversunken tätschelt. Ralf hat zwar mal davon gesprochen, dass er finanzielle Probleme mit dem Hof hat, aber sowas? Gerade als erneute Zweifel durch seine Gedanken huschen und das Teufelchen auf seiner Schulter auftaucht, geht die Tür zum Wohnhaus auf. Ein Mann rennt auf den Platz und erblickt sofort die beiden Freunde. Jos Herzschlag beschleunigt sich, als er seinen Geliebten erkennt. Breite Schultern, ein kräftiges, kantiges Gesicht, hellblondes Haar und … einen blauen Overall.
„Ralf!“, schreit Jo, bevor er ihm mit ausgestreckten Armen entgegenläuft. Die Gesichter der Männer leuchten vor Freude und den starken Gefühlen, die sie verbinden. Im nächsten Moment strauchelt Jo über Strolchi, der neben ihm herrennt und freudig bellt. Er beginnt zu taumeln. Ralf fängt ihn geschickt auf, hebt ihn ohne Probleme hoch, drückt ihn an sich und dreht sich mit ihm um die eigene Achse. „Endlich bist du da! Ich freu mich riesig, mein Kleiner“, nuschelt Ralf in Jos Nacken, bevor er ihn dort küsst.
„Ich bin so glücklich, Ralf. Unser gemeinsames Leben kann endlich beginnen.“ Die Männer küssen sich ausgehungert und pressen ihre Körper aneinander. Hugo beobachtet die liebevolle Willkommensszene mit einem warmen Lächeln, während er sich des freudig hechelnden Hundes annimmt.
„Sucht euch doch ein Zimmer!“, ertönt eine Stimme. Die Männer schrecken voneinander weg und sehen die Frau an, die neben den beiden steht und süffisant grinst. „Grüß dich, ich bin Silvie, Ralfs Schwester. Freut mich, dich kennenzulernen, Jo“, meint sie freundlich und umarmt ihn sogleich. Ein wenig überrumpelt erwidert er die Geste.
„Freut mich auch, Silvie …“, presst Jo hervor und meint es auch tatsächlich so, denn Silvie scheint eine nette, junge Frau zu sein. Mit seinen Augen scannt Jo den Hof und die Umgebung, während Silvie ihn umarmt. In diesem Moment entdeckt er sie – eine alte, bucklige Frau, deren Gesicht von der Sonne gebräunt und durch die Zeit zerfurcht ist. Sie sieht ihn mit zusammengekniffenen Augen an und fixiert jede seiner Bewegungen. Sie hat ihre vollkommen ergrauten Haare zu einem Knoten zusammengebunden und trägt ein altertümliches Dirndl. Jo schluckt trocken. „W… wer ist das?“, will er von Ralf wissen, als er sich von dessen Schwester löst.
„Ach, das ist meine Oma. Du wirst sie mögen, sie ist ein Goldschatz.“
„Du … ähm … du wohnst hier mit deiner Schwester und deiner Großmutter?“
„Ja, habe ich das nicht erwähnt?“, will Ralf verlegen wissen.
„Nein … das … das musst du wohl vergessen haben“, gibt Jo kritisch zurück, bevor er die Fassung zurückerlangt. Er setzt ein strahlendes Lächeln auf, richtet seine Kleidung und stolziert auf die Frau zu. Sie lässt ihren Blick über seinen Körper gleiten und verzieht kaum merklich den Mund. „Oma Stauber, es freut mich, Sie kennenzulernen“, entgegnet er freundlich, als er der alten Frau die Hand hinstreckt.
„Du koost mi kreizweis!”, antwortet sie ihm. Schockiert reißt Jo die Augen auf und spürt förmlich, wie ihm die Kinnlade runterklappt und sich seine gute Laune in Luft auflöst. Er zieht die Hand zurück, während neben seinem Kopf das imaginäre Teufelchen dem Engelchen mit seinem brennendroten Dreizack nachjagt und ihm in den Hintern sticht.
Das kann ja heiter werden.