„Hör auf, mir zu widersprechen. Du beschaffst mir die beiden wieder und setzt deinen Bruder darauf an! Verstanden?“ Die Stimme des Dons wurde nochmals energischer, bedrohlicher.
Salvatore Salvas nickte und trat einen kleinen Schritt zurück. Er vermied jeglichen Augenkontakt mit seinem Boss, denn bei Raffael González wusste man nie, wann er ausflippen und mit einer Pistole um sich ballern würde. Dieser Mann war äusserst jähzornig, cholerisch und es brauchte nicht viel, um in seine Ungnade zu fallen.
„Anderes Thema … Hat Juan García Díaz seine angehäuften Schulden inklusive den Schuldzinsen endlich bezahlt?“, fragte González ungehalten.
„Nein, bisher schob er immer seine Frau und die Kinder als Ausreden vor, weshalb er noch nicht bezahlen konnte … Wir haben ihm nochmals zwei Mona…“, fing Salvatore an.
„Genug! Töte seine Frau und schick ihm ihren linken Ringfinger mitsamt Ehering in einer Kartonbox. Als Zeichen. Schreib dazu eine Nachricht: Er habe noch genau vier Tage Zeit um die Summe zurückzuzahlen, bevor wir uns seine süssen Kinder vornehmen …“
Salvatore Salvas nickte und verabschiedete sich. Er verbeugte sich vor González und küsste den Ring, den dieser an seinem rechten Zeigefinger trug. Das einprägsame Schmuckstück bestand aus purem Gold und in der Mitte war ein oval geschliffener, feuerroter Rubin eingelassen. Diese unterwürfige, devote Geste bestätigte den Don in seiner uneingeschränkten Überlegenheit gegenüber seinen Untertanten und musste jeweils zu Beginn und am Schluss einer „Audienz“ ausgeführt werden.
„Nein! Bitte! Ich weiss nichts von Geld, dass mein Mann geborgt haben soll … Bitte. Ich habe zwei Kinder, zwei kleine Kinder …“
Die flehenden Versuche ihr Schicksal abzuwenden, trugen keine Früchte. Sie wurde von zwei Männern festgehalten und konnte sich nicht wehren. Der Ringfinger ihrer linken Hand wurde zwischen die scharfen, aber rostigen Klingen der Heckenschere gedrückt, bevor sich das Metall langsam den Weg durch ihr Fleisch bahnte.
Der verzweifelte und schmerzerfüllte Schrei der unschuldigen Ehefrau des säumigen Schuldners durchdrang die Stille der Nacht. Salvatore war meistens mit von der Partie, wenn ein Auftrag ausgeführt wurde, um zu überwachen, dass er zu Dons Zufriedenheit erledigt wurde. Dons Männer waren brutale Schurken ohne Seele und ohne Gnade. Anstatt die Frau vor der gewaltsamen und unfreiwilligen Amputation ihres Fingers zu töten, liessen sie ihr Opfer so lange wie möglich am Leben, um ihr grösstmöglichen Schmerz zuzufügen. Als die Klingen des Werkzeugs aufeinander trafen und das abgetrennte Glied auf den Boden fiel, war von der Frau nicht mehr viel mehr als ein Wimmern zu hören.
Salvatore Salvas stand auf, zückte seine Pistole und jagte der Frau eine Kugel in den Schädel.
Sie war sofort tot.
Er wusste, dass seine Handlanger das unschuldige Opfer noch lange gequält hätten, wenn er sie nicht erlöst hätte. Die Enttäuschung war dann auch in den Augen der Männer zu sehen.
„Packt den Finger in einen Plastikbeutel, dann in eine Box. Vergesst nicht die Nachricht dazuzulegen und schickt das blutige Packet an Juan García Díaz. Verstanden?“
Seine Gefolgsleute nickten und er wandte sich von diesem bizarren Schauplatz ab.
Jetzt musste er die Mission „Wiederbeschaffung“, wie sie der Don nannte, aufgleisen und starten. Salvatore wollte keinesfalls seinen Bruder auf diesen Auftrag ansetzten, denn Manuel würde sich emotional an die Zielperson binden, sich vielleicht sogar verlieben.
Manuel, sein Zwillingsbruder, war sein Leben im Kartell schon lange leid und wollte sich ausserhalb, in der „normalen“ Welt, neu orientieren. Diese Zielperson würde ihm den Kopf verdrehen und seine Welt auf den Kopf stellen, das wusste Salvatore bereits jetzt.
Und doch hatte er keine andere Wahl, als dem Don zu gehorchen. Jeder, der es bisher gewagt hatte, ihm einen Wunsch abzuschlagen oder einen Auftrag zu verweigern wurde früher oder später tot, mit einer Kugel im Schädel, aufgefunden oder wurde nie mehr gesehen. So wollte Salvatore nicht enden.
So nicht!
Also nahm er sein Smartphone aus der Tasche, wählte die Nummer seines Bruders und sprach ins Mikrofon: „Manuel? Hier Salvatore. Ich habe einen neuen Auftrag für dich. Du wirst nach Europa fliegen. Die Infos zu deiner Zielperson sowie die Flugtickets werden dir am Flughafen übergeben. Das Ticket ist auf den Namen in deinem Ukrainischen Pass ausgestellt. Okay?“
„Alles klar. Ich mache mich sofort auf den Weg. Um was für einen Auftrag handelt es sich?“, fragte sein Bruder am Telefon.
„Du bekommst die Details, wenn du gelandet bist.“ Damit beendete Salvatore das Gespräch. Er wollte seinem Bruder unter gar keinen Umständen zehn Stunden Zeit schenken, um während des Fluges über den Auftrag nachzudenken. Sein Bruder sollte ohne Vorurteile oder Zweifel an die Sache herangehen. Salvatore würde Manuel zudem nicht alle Informationen zum Auftrag sofort geben, denn dann würde sein Bruder rebellieren, da war er sich sicher.
Scheisse. Ich habe es langsam satt und möchte mich endlich aus diesem schmutzigen Business zurückziehen. Ich will endlich einen liebenden Partner finden und eine eigene Familie gründen. Ach, wie ich mein Leben hier hasse, dachte Manuel, als sein Bruder den Anruf beendet hatte.
Wenn man erst einmal im Sumpf der Drogensyndikate versunken ist, dann führt kein Weg je wieder heraus, das war auch Manuel klar. Und doch musste er probieren, sein Lebensziel zu erreichen.
„Das ist der letzte Auftrag, den ich für dieses Schwein González ausführen werde“, sagte er laut.
Der Entschluss war gefasst.
Endlich würde er versuchen auszusteigen und wenn es ihn das Leben kosten würde.
Manuel packte einige Kleider, Schuhe und Toilettenartikel in seinen alten, zerfetzten Rucksack und kramte aus einer Kartonbox, die unter einem losen Holzbrett im Boden versteckt war, den erwähnten Ukrainischen Pass heraus. Diese Identität hatte er bislang noch nie verwendet, sein neuer Name gefiel ihm aber. Waffen durfte er natürlich auf dem Flug nicht mitführen. Im Kartell-Versteck in Europa würde er jedoch genug Feuerkraft vorfinden um sich für den Auftrag ausrüsten zu können. Er fuhr mit seinem Auto zum Flughafen von Mexiko Stadt, um in die nächste Passagiermaschine einer britischen Fluggesellschaft einzuchecken und seine letzte Auftrags-Reise zu beginnen.
Als er seinen verbeulten Sportwagen auf einem Parkplatz im Langzeit-Parkhaus des Flughafens abgestellt und sein einziges Gepäckstück aus dem Kofferraum geholt hatte, kam bereits ein Kartellkollege angerannt und steckte ihm einen schweren, gelben Umschlag zu.
„Danke“, sagte Manuel kühl. Nachdem er das Flugticket rausgefischt hatte, steckte er das prallgefüllte Dossier in seinen Rucksack. Er würde die vorhandenen Infos auf dem langen Flug studieren. Zeit hatte er ja genug. Seine falsche Identität war wasserdicht und das Check-in am Schalter der Fluggesellschaft sowie die Passkontrolle konnten ohne Probleme durchlaufen werden. Nach einer kurzen Wartezeit am Gate wurde die Fluggastbrücke an das aufgetankte Flugzeug angedockt und die wartenden Passagiere konnten ihre Plätze einnehmen.
Eigentlich hätte Manuel in einem kartelleigenen Privatjet nach Europa reisen können, doch er mischte sich gerne unter „normale“ Leute und reiste am liebsten in der Holzklasse von Linienfluggesellschaften. Er hatte einen Fensterplatz und würde die atemberaubende Aussicht aus der Luft geniessen.
Er verband die, zur Verfügung gestellten Kopfhörer mit seinem Smartphone und arretierte die Lautsprecher in seinen Ohren bevor er die passende Playliste anwählte und auf „Play“ drückte. Denken und entspannen konnte er am Besten, wenn er von seiner Lieblingsmusik berieselt wurde. Er kramte in seinem Rucksack nach dem Umschlag. Es waren nebst Informationen zu Wohnort und Geschäftstätigkeit seiner neuen Zielperson auch diverse Portrait-Fotos und Schnappschüsse im Dossier abgelegt. Als er einen ersten, zögerlichen Blick auf den Mann werfen konnte, den er beschatten sollte, musste er leer Schlucken.
„Wow! Was für ein attraktiver Mann …“, dachte Manuel. Es würde ihm nicht schwer fallen, diesen „Kontakt“ herzustellen …