Sebastian starrte voller Abscheu und abgrundtiefem Entsetzen in die trübe Flüssigkeit, die in der schmutzigen Chromstahlschüssel schwamm. Automatisch wanderten seine Augen panisch umher und sein Blick fiel auf das Metall an den Seiten. Ein Fehler! An den Rändern hafteten nicht identifizierbare, getrocknete Spuren vorheriger Häftlinge, was Sebastians Brechreiz anregte. Ein ureigener Instinkt, der sich schwer aufhalten lässt. Sebastian wusste, dass sich seine Lage – und das Wasser – massiv eintrüben würden, wenn er sich jetzt übergeben müsste. Er versuchte sich zu beherrschen, um seinen Mageninhalt nicht in die Schüssel zu erbrechen, in die er gleich – ohne Zweifel – eingetaucht würde. Als sein Blick wieder auf die immer näher kommende Brühe fiel, wurde ihm klar, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er damit in Kontakt kommt. Seine Gedanken rasten. Wann erwache ich aus diesem grausamen Albtraum? Bitte lass mich aufwachen! Bitte! Ich habe nichts getan. Wieso passiert mir das? Warum mir? Was für ein Albtraum!
Doch das war kein Albtraum.
Das war die Wirklichkeit in ihrer erschreckendsten und grausamsten Form. Sebastians Körper zuckte und er versuchte sich verzweifelt zu wehren, zu befreien. Der Wärter war stärker und übte unsäglichen Druck auf seinen Arm und seinen Kopf aus. Er fühlte sich hilflos, ohnmächtig und ausgeliefert. Das war das Schlimmste an dieser Situation! Warum passiert mir das? Warum mir? Bitte, lass ihn aufhören! Die ersten Haarsträhnen kamen mit dem trüben Nass in Kontakt. Sebastian konnte fast sehen, wie sie sich mit der Feuchtigkeit vollsogen. Jetzt ging es nicht mehr lange. Sebastian holte tief Luft.
„Na, mal sehen, wie dir das gefällt, du Schwanzlutsch–“, fluchte der Beamte. Die grausamen Worte wurden zu einem Rauschen, als Sebastians Gesicht unter Wasser gedrückt wurde. Er hörte dumpfes Klopfen, den Aufschrei der Metallschüssel.
Blanke Panik, eine unsägliche Angst machte sich in ihm breit, infizierte jede Zelle seines adrenalin- und instinktkontrollierten Körpers. Er versuchte sich zu konzentrieren und den Gedanken an die unhygienische Flüssigkeit in der Toilettenschüssel zu verdrängen. Schwer fiel ihm das nicht. Sein Überlebensinstinkt hatte bereits die Kontrolle übernommen. Seine ganze Kraft bündelte sich in seinem Körper, in seinen Extremitäten. Mit seinen Knien und Füßen versuchte er sich vom nassen und rutschigen Boden abzustoßen, sich aus dem eisernen Griff seines Peinigers zu winden.
Ohne Erfolg.
Jetzt muss ich sterben. Als es Sebastian langsam schwarz vor Augen wurde, wehrte er sich mit aller Kraft dagegen. Er riss seine Lider weit auf und kämpfte gegen die Ohnmacht. Doch er musste seine Augen sofort wieder schließen, da sie wie Feuer brannten. Das Wasser reizte seine Netzhaut. Er musste atmen, er brauchte Sauerstoff! Wie lange wurde er schon unter Wasser gedrückt? Die Zeit schien stehenzubleiben. Eine grausame, unendliche Ewigkeit. Jede einzelne Zelle seines Körpers verlangte nach Sauerstoff, schrie regelrecht danach.
Ich muss atmen! Lass mich atmen!
Der Drang nach Luft zu schnappen, wurde immer unerträglicher. Seine Lungen sehnten sich nach Sauerstoff. Der Schmerz, war brennend, stechend und pulsierend zugleich. Die Angst vor dem Tod, vor einem grausamen Ertrinken, war zentral und mächtig. Sebastians Körper zitterte unkontrolliert. Er wurde von heftigen Krämpfen geschüttelt. Ich kann nicht mehr länger warten! Das war sein letzter Gedanke, bevor er es nicht mehr aushielt, seine Lippen einen Spalt breit öffnete und einen Schwall Wasser in seinen Mund ließ. Es brannte – in seinem Hals, in der Luftröhre und in der Lunge. Lichtblitze zuckten vor seinen Augen. Das Brennen breitete sich auf sein gesamtes Nervensystem aus und sein Schädel fühlte sich an, als würde er in Kürze zerspringen.
Luft! Er konnte an nichts anderes denken.
Sebastians Zellen waren dabei abzusterben, was den Schmerz verursachte. Bald würde sein Gehirn aussetzen und er würde in eine dunkle Bewusstlosigkeit abdriften. Der Schmerz pulsierte in seinem Körper. Langsam verschwamm die Realität.
Ich will noch nicht sterben! Bitte!
Er merkte kaum, wie sein Kopf nach oben gezogen wurde, raus aus dem Wasser. Automatisch schnappte er nach Luft. Er versuchte verzweifelt zu atmen.
Nichts.
Er war wie ein Fisch auf dem Trockenen und merkte wie das Wasser von seinem Gesicht tropfte. Schlagartig strömte der langersehnte Sauerstoff brennend in seine Lungen und versorgte seinen gepeinigten Organismus mit dem lebenswichtigen Elixier. Endlich! Sein Körper wehrte sich gegen das eingeatmete Wasser und so hustete und würgte er die unhygienische Flüssigkeit aus seinen Atemwegen. Er erbrach sich auf den Boden, tränkte seine Hände und Kleider damit. Doch Sebastian bemerkte das kaum. Er schnappte noch immer nach Luft und versuchte tief ein- und auszuatmen. Er weinte, schluchzte und schrie. Die ganze Angst und Panik entlud sich auf einmal. Die Geräusche, die sein geschundener Körper von sich gab, spiegelten den puren Horror wieder. Er spürte die Feuchtigkeit, die ihm über Rücken und die Brust tropfte. Alles war nass und triefte. Doch in diesem Moment war alles egal. Er war so froh wieder frei atmen zu können. Er spürte, wie sich sein Puls langsam beruhigte und auch die letzte Zelle mit Sauerstoff versorgt wurde. Der brennende Schmerz ließ langsam nach und zurück blieb ein dröhnendes Hämmern in seinem Kopf, als ob eine ganze Marschkappelle musizierte.
„Scheiße! Warum tun Sie mir das an? Was habe ich Ihnen getan? Verdammt noch mal!“, presste Sebastian hervor. Er hustete ununterbrochen. Doch statt einer Antwort trat der Beamte zu, traktierte Sebastian mit dem Stiefel. Das Opfer kippte zur Seite. Schmerzboten jagten durch sein überreiztes System. Er atmete schwer, hustete und verkrampfte sich. Er hatte panische Angst.
Todesangst.
Vor wenigen Sekunden war er noch sicher, er müsse ersticken. Eine schreckliche Art zu sterben. Dieser Gedanke erfüllte ihn mit abgrundtiefer Furcht. Er versuchte ruhig zu atmen, sich zu beruhigen. Alles wird gut. Alles wird gut. Du schaffst das!
„Na, redest du jetzt oder soll ich weitermachen?“, keifte ihn der Wärter an.
„N-nein. Bitte, bitte nicht. Ich weiß doch nichts. Wirklich. Bitte … nicht … bitte nicht nochmal. Bitte, nein!“ wimmerte Sebastian. Sein Peiniger war um einiges größer als er, wirkte nahezu riesenhaft, wie er so über Sebastian stand. Mit einem dreckigen Grinsen blickte er auf das Häufchen Elend herab, das vor seinen Stiefeln kauerte und keuchte. Die dunklen Haare des Justizvollzugsbeamten waren zu einem kurzen Bürstenschnitt geschnitten und sein Kinn war vernarbt. Er wirkte stark, gut trainiert.
Sebastian wurde erneut von seinen rauen Händen am Kragen gepackt und nach oben gezerrt. Die Wache schleifte ihn brutal durch den Raum und drückte ihn auf einen Stuhl, der an einem wackeligen, in der Wand verankerten Tisch stand. Der Beamte griff nach Sebastians linker Hand und drückte sie fest auf die Tischplatte. So etwas hatte Sebastian noch nie erlebt. Er hatte keine Chance seinen Arm auf der Tischplatte zu bewegen. Egal, wie sehr er es auch versuchte.
„So, jetzt hörst du mir zu, du Schwuchtel! Du sagst mir, wer dein Dealer ist und woher du diese verdammten scheiß Drogen hast! Verstanden? Wenn du es mir nicht sagst, wirst du es bereuen. Glaub’s mir, du kleiner, schwuler Arsch!“, brüllte ihm der Mann direkt ins Ohr. Er griff nach Sebastians kleinem Finger, schloss langsam seine Faust um ihn und zog ihn mit einem gemeinen Grinsen bis zum Anschlag nach hinten. Die empfindliche Haut um den Finger spannte, als Gelenke und Knochen langsam überdehnt wurden.
„Nein! Nein, bitte nicht! Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Bitte! Ich weiß nicht, wer mir diese Drogen untergejubelt hat. Glauben Sie mir endlich! Ich weiß nichts über diese Drogen!“ Während Sebastian um Gnade winselte, drückte der Justizbeamte den Finger weiter nach hinten. Sebastians Finger schien zu explodieren, so als ob seine Haut in Kürze reißen und aufplatzen würde. Wie eine Wurst, die zu lange und zu heiß gekocht wurde.
„Oh Gott … oh Gott. Nein, bitte! Bitte glauben Sie mir endlich! Ich wurde verarscht. Ich weiß nicht woher das Zeug stammt oder wer es mir untergejubelt hat. Sonst würde ich es Ihnen sagen. Ich weiß es nicht!“ Der Schmerz und die Angst vor dem, was gleich passieren würde, mischten sich zu einem explosiven Cocktail, der Sebastians Sinne vereinnahmte. Der Schmerz, der von seinem Finger ausging, verhieß nichts Gutes. Gepeinigt schloss Sebastian die Augen. In diesem Moment geschah etwas Merkwürdiges: Für Sebastian war es, als ob er seinen eigenen Körper verließe und von oben auf diese makabere Szene hinabblickte. Er war abwesend und doch präsent in seinem misshandelten Körper. Alles wirkte so unwirklich, absolut surreal. Sebastian Pola in einer türkischen Gefängniszelle, malträtiert von einem wild gewordenen Justizvollzugsbeamten, in einer Toilette gequält, den Finger bis zum Anschlag nach hinten gebogen. Wieso tut man mir das an? Warum? Doch schon verflog der Moment und er wurde mit einem Ruck zurück in seinen Körper katapultiert.
„Letzte Chance!“, brüllte ihm der Wärter ins Ohr. Für einen kurzen Moment klangen Sebastians Ohren nach, so laut hallten die Worte durch seinen Gehörgang. Aber immerhin hatte er den Druck auf seinen Finger reduziert. Sebastians Gedanken kreisten. Warum hört mir dieser Idiot nicht zu? Warum glaubt er mir nicht? Ich habe nichts mit diesen Drogen zu tun. Mach, dass er mir glaubt! Bitte!
„Ich weiß nicht, wer mir diese Dro-“, flüsterte Sebastian, bevor der Wärter mit einem schnellen und kräftigen Ruck seinen Finger nach hinten knickte. Ohne zu zögern, brach ihm dieses Schwein seinen kleinen Finger!
Das Geräusch des brechenden Fingers dröhnte in Sebastians Ohren. Er brüllte vor Schmerzen. Der brechende Knochen, sein Schrei, alles erhob sich zu einer schallenden Kakophonie. Für Sebastian war es endgültig zu viel. Ihm wurde schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.
Verzweiflung.
Angst.
Entsetzen.
Dunkelheit.