Das Lachen überschlägt sich in den Weiten der menschenleeren Tiefgarage des frisch eröffneten Prime Tower in Zürich. Das Bürogebäude steht leer. In zwei Wochen beziehen die Firmen ihre frischgemieteten Flächen. Der Entführer ist groß und kräftig. Er hat viele Narben im Gesicht, trägt einen gepflegten Dreitagebart und lächelt mit ekelhafter Selbstgefälligkeit. Seine frostigen Augen strahlen unterschwellig aus, dass er vor nichts zurückschreckt. Er wird bekommen, was er will. Sein anthrazitfarbener Seidenanzug schimmert im sterilen Licht der Leuchtstoffröhren. Er strahlt eine Aura der vollkommenen Überlegenheit aus.
»Ach, Doktor Lindner. Sie und Ihr Ehemann – nennt man das heutzutage so, wenn zwei männliche Homosapiens eine Art wiedernatürliche Lebensgemeinschaft eingehen? Egal – Sie und Ihr Partner tun mir leid«, sagt der Entführer mit geheuchelter Freundlichkeit. Sein russischer Akzent ist kaum noch vernehmbar, zugleich so präsent. »Hätten Sie doch nur mit unserem Mann kooperiert, so wie es geplant war, dann stünden wir jetzt nicht hier und müssten Ihren Knaben bedrohen. Diese Komplikationen hätten verhindert werden können«, säuselt er.
Seine Augen flackern auf. Er genießt es, wie die Männer vor ihm kriechen, sich winden – wie Fische an einem Haken. »Der kleine Mann hier«, fährt der Gewalttäter fort, während er Elija über die Haare und Wangen streicht, »ist äußerst knuffig. Da haben Sie gute Arbeit geleistet, Doktor. Er ist doch von Ihnen, oder?«, will er in aller Gelassenheit wissen. Der Knabe zuckt angeekelt weg. Korvin schließt flehend die Augen, holt tief Luft und sagt gespielt ruhig: »Ja … ja, ist er. Bitte, lassen Sie ihn frei. Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen. Ich besorge Ihnen eine Probe der Arznei.«
Der Griff des Mannes an Elija Lindners Arm wird fester. Überdeutlich sind die hellen Stellen an der zarten Haut des Jungen zu sehen, wo der Kriminelle zudrückt und sich die Fingerkuppen in Elijas Fleisch bohren. Der Junge schreit auf und will sich befreien. Er schlägt mit seinen Armen um sich. Der Entführer verhindert, dass Elija entwischt. Eisern hält er den Jungen an Ort und Stelle.
»Erzählen Sie mir, Doc, wie sich seine Zeugung zugetragen hat. Haben Sie sich zu Beginn Ihrer sexuellen Reife den Regeln der Natur gebeugt? Oder haben Sie schon immer den evolutionären Richtlinien entsagt? Etwa Leihmutterschaft?«, mutmaßt der Psychopath, während er sich über die Lippen leckt.
»Das geht Sie einen feuchten Scheißdreck an!«, platzt es aus Korvin heraus. Sein Wut- und Paniklevel steigt unaufhörlich. Der Gewalttäter beobachtet mit Genugtuung, wie Korvin immer aggressiver wird. Von Panik dirigiert. Amüsiert verfolgt er die sichtbare Veränderung der Männer.
»Beantworten Sie die Frage!«, donnert die rauchige Stimme des Mannes um die Säulen der Tiefgarage, bevor sie sich schallend überschlägt und zurückhallt. Elija schreit und will sich erneut losreißen.
Hilf mir!
Hilf mir, Papa!
Mit einem gezielten Schlag in den Nacken setzt der Entführer den Jungen außer Gefecht. Korvin und Niclas zucken zusammen, müssen zusehen, wie Elija bewusstlos zusammenbricht. Wie eine Puppe baumelt der Kleine neben dem Entführer, der ihn am T-Shirt festhält. »Die Frage, Doktor!«, brüllt der Entführer.
»Nein. S-seine Mutter wusste, dass … dass ich homosexuell bin und hat eingewilligt, das Sorgerecht an Niclas abzutreten! Damit hat sie uns eine gemeinsame Familie geschenkt. Künstliche Befruchtung. Beantwortet das Ihre … Ihre Frage? Lassen Sie Elija jetzt frei?«
Seufzend schüttelt der Kidnapper den Kopf.
Korvin hasst alles an diesem Mann, seine großgewachsene, kräftige Statur, seine perfide Art, sein kantiges Gesicht, seine Überheblichkeit, die gebildete Ausdrucksweise, den teuren Anzug. Er will ihn töten, weil er Hand an seinen Jungen legt, ihn berührt und bedroht. Und doch darf er Elija nicht gefährden, indem er eine unüberlegte Bewegung macht. Korvin ist Wissenschaftler, ein Reagenzglasschnüffler, ein Zentrifugen-Statist. Er hätte nicht die Kraft und die Agilität, Elija zu befreien. Schon gar nicht aus den Fängen dieses kranken, unberechenbaren Psychopathen.
Korvins Oberlippe bebt vor Wut, seine Augen sind zusammengezogen, nervöse Zuckungen durchfluten seinen Körper, jeder Muskel bis zum Äußersten gespannt.
»Darf ich einen Vorschlag machen?«, durchdringt die Stimme des Kriminellen die brodelnde Stille. Ohne eine Antwort abzuwarten, fährt er fort: »Sie werden mir die Forschungsdaten und eine getestete sowie funktionsfähige Probe des Heilmittels besorgen. Die Kopien auf der Serverlandschaft des Instituts werden gelöscht, die restlichen Proben zerstört. Als Gegenleistung, bekommen Sie Ihren Sonnenschein zurück. Unverletzt, wohlauf und gefräßig, versteht sich. Wie klingt das in Ihren Ohren, Doc? Akzeptabel?«
»Sie sind ja verrückt! Auf keinen Fall werde ich alle Forschungsergebnisse vernichten und Ihnen den einzig verbleibenden Bausatz des Antidots aushändigen! Diese Forschung wird Millionen von Menschen vor einem grausamen Schicksal bewahren und das können Sie nicht für sich allein beanspruchen! Sie werden ganze Staaten erpressen. Selbstverständlich wird jeder Patient bezahlen, was Sie verlangen! Das grenzt an … an … Bioterrorismus! Es muss noch eine andere Lösung geben!«
»Das sind meine bescheidenen Bedingungen. Ich fürchte, sie sind nicht verhandelbar«, zischt der Entführer zwischen den Zähnen hervor. Er legt die freie Hand auf seine Brust und fährt fort: »Aus tiefstem Herzen rate ich Ihnen, zu kooperieren.«
»Das ist unmöglich! Selbst, wenn ich wollte. Wie kriege ich die Ampulle mit dem Heilmittel aus dem Labor? Die Institution gleicht einem verdammten Hochsicherheitsgefängnis! Überall gibt es Sensoren, Partikelfilter und Kameras. Ich kann das Antidot nicht rausschaffen! Keine Chance!«
»Ach, Doc. Warum machen Sie es mir so schwer? Ich bin überzeugt davon, dass es einen Ausweg gibt, den Sie finden werden. Die Zeit wird langsam knapp. Steht unsere Abmachung?!«, presst der Entführer hervor. Zornesfalten bilden sich zwischen seinen Augenbrauen. Korvin weiß genau, dass er nicht erfüllen kann, was der Mann fordert und doch muss er es ihm versprechen, um seinem Jungen das Leben zu retten.
Eine aussichtlose Situation.
Wimmernd kommt Elija wieder zu sich. Er ist sich der Gefahr, in der er schwebt, sofort wieder bewusst. »Ich bedaure zutiefst, dass wir zu diesem Zeitpunkt keine einvernehmliche Übereinkunft erzielen können. Was folgt, wird Ihnen missfallen«, erklärt der Kriminelle seelenruhig. »Aber ich denke, dass wir den Einsatz erhöhen müssen, um Sie für die Sache zu gewinnen, Doc.« Blitzschnell zieht er einen Injektions-Pen aus der Hose und drückt ihn an Elijas Halsschlagader. Der Pen ist silbern, sieht modern aus. In der Mitte ist eine Ampulle mit einer klaren Flüssigkeit sichtbar.
Die Panik des Jungen aktiviert seine ureigenen Instinkte. Die Luft wird getüncht von einem beißend säuerlichen Geruch. Der Urin bildet einen dunklen und feuchten Kontrast zum Rest der hellblauen Hose. Das warme Nass bahnt sich seinen Weg über das linke Hosenbein und verteilt sich über kühlen Beton. Das bleibt auch dem Erpresser nicht verborgen. Grinsend sucht er den Blickkontakt zu Korvin und Niclas, um deren blankes Entsetzen in sich aufzusaugen, sich daran zu laben. Ein beinahe unsichtbares Lächeln huscht über das gepflegte Gesicht des Mannes.
Die Narbe an seinem Kinn zuckt verdächtig.
Ohne zu zögern, spritzt der Mann die Flüssigkeit in den Blutkreislauf des fünfjährigen Kindes. Mit hektischen Pupillen verfolgt Korvin, wie der Inhalt der Spritze im Hals seines Sohnes verschwindet. Diese wenigen Sekundenbruchteile entwickeln sich für Korvin zu Minuten, zu ganzen Tagen. Eine unheimlich langedauernde Ewigkeit voller Panik und Entsetzen.
»Neeiiiin!«, brüllt er verzweifelt und wütend, während sich Niclas fest an Korvins Arm klammert, seine Nähe sucht. Der Entführer entfernt den entleerten Pen vom Hals des Jungen und wirft ihn vor Korvins Füße. Dieser blickt auf den Hals seines Sohnes und die Spritze. Darin war ein Mittel, das seinen Sohn mit hundertprozentiger Sicherheit krank machen wird! Die Einstichstelle wird von einem überdeutlichen, kreisrunden Abdruck begrenzt.
Feuerrot leuchtet dort die irritierte Haut.
Augenblicklich sackt Elija in sich zusammen. Es ist, als ob sämtliche Kraft aus seinem kleinen Körper gewichen ist. Ein Häufchen Elend. Wie einen Mehlsack schwingt der Entführer den Knaben über seine Schulter und hält ihn dort fest.
»Wie konnten Sie das tun? Was war in dieser Ampulle?! Sagen Sie mir, verdammt nochmal, was Sie ihm gespritzt haben!«
»Ist das so schwer zu erraten? Sie sind doch ein Doktor der Wissenschaft. Ein Genie mit fotografischem Gedächtnis. Ich habe ihm logischerweise das Virus gespritzt, nach dessen Heilmittel es mich dürstet. Eine mutierte, weiterentwickelte Form davon. Tödlich innerhalb von 48 Stunden. Die Inkubationszeit beträgt 24 Stunden. Dann geht alles sehr schnell. Sämtliche bekannten Symptome brechen innerhalb weniger Stunden aus, zerstören das Immunsystem und beginnen die inneren Organe anzugreifen und zu zerfressen. Nekrose. Nach weiteren 24 Stunden tritt der Tod ein. Schmerzhaft, grausam und ohne Chancen auf Rekonvaleszenz. Ach nein, das stimmt nicht. Sie können Ihrem Sonnenscheinchen Heilung verschaffen! Sie, Doktor Korvin Lindner, Sie haben die Wahl: Entweder stirbt Ihr Sohn einen grausamen Tod – den er nicht verdient hat – oder Sie verabreichen ihm rechtzeitig das besagte Antidot und übergeben mir die Dokumentation. Ihre Entscheidung!«, entgegnet der Verbrecher kaltschnäuzig.
»Sie verfolgen einen grausamen Plan und nehmen keine Rücksicht auf Verluste. Sie machen nicht einmal Halt vor einem unschuldigen Kind. Ich verabscheue Sie!«, speit Niclas.
»Ach, jetzt meldet sich der Ehemann zu Wort. Süß. Das alles geht Ihnen nicht so nahe, wie Ihrem Kory, oder? Elija ist ja auch nicht Ihr leiblicher Sohn … darum wohl diese gefasste Gleichgültigkeit. Sie sind ja nur der Stiefvater.«
»Fick dich! Fick dich, du Arschloch, du abscheuliche Bestie!«, platzt es aus Niclas heraus. Tränen strömen über seine erhitzten Wangen. Er will auf den Mann losstürmen, doch Korvin hält ihn zurück. Der Entführer schmunzelt, sein Auge zuckt vor Belustigung. Die Lindners sind gute Laborratten.
»Besorgen Sie mir die Unterlagen und Ihrem Sohn das Heilmittel. Sie haben jetzt noch exakt«, der Entführer sieht auf seine teure Armbanduhr, »47 Stunden und 50 Minuten Zeit. Seien Sie pünktlich, sonst stirbt Ihr Elija einen schrecklichen Tod«, zischt der Psychopath, als er sich langsam mit Elija zurückzieht. »Besorgen Sie mir das Mittel! Keine Dummheiten. Wir merken es, wenn Sie jemanden im SBL oder bei der Polizei informieren. Dann bekommen Sie Ihren Sohn feinsäuberlich filetiert und in kleine, handliche Pakete verpackt zurück! Stückchen für Stückchen.« Der Entführer verschwindet im Aufzug der unterirdischen Tiefgarage des Prime Tower. Die Lindners bleiben gelähmt zurück. Auf dem Beton der Parkgarage breitet sich Elijas abgekühlter Urin weiter aus. Eine penetrant riechende Lache ist alles, was den Vätern von ihrem Sohn geblieben ist.
Korvin nickt, blickt auf die Uhr, stellt den Timer auf 46 Stunden und sprintet los. Wie Sandkörner rieselt ihm die Zeit durch die Finger. Unaufhaltbar.
Ticktack.
Ticktack.