„Sowas dachte ich mir schon“, beginnt der Zahnarzt mit einem gewinnenden Lächeln. „Haben Sie bereits etwas zur Beruhigung eingenommen oder soll ich Ihnen ein leichtes Sedativum bringen lassen?“, will er von mir wissen.
„Ähm … ich … also … ich …“
„Er hat schon etwas genommen, Doktor“, antwortet meine Mutter. Ich schließe erneut die Augen und atme tief durch.
„Gut. Hatten Sie seit sie das letzte Mal bei uns waren, irgendwelche Probleme mit ihren Zähnen? Beschwerden?“
„N-nein“, stammle ich.
„Sehr schön. Röntgenbilder machen wir das nächste Mal, das ist noch nicht nötig.“ Während Doktor Rausche spricht, zieht er sich Latexhandschuhe über seine perfekten Hände. Er trägt ein weißes Kurzarmhemd, ebensolche Hosen und natürlich weiße Schuhe. Seine Arme sind leicht behaart und gut trainiert. Ich sehe wie die Sehnen und Adern unter seiner leicht gebräunten Haut arbeiten. Ein leises Räuspern seinerseits lässt mich aufschrecken. Ich habe ihn mehr als eindeutig angegafft. Mist. Sowas ist mir noch nie passiert. Er hält den Kopf leicht schräg und lächelt mich an. Helle Sprenkel akzentuieren das satte Grün seiner Augen und verleihen diesen ein schelmisches Funkeln. Meine Mutter räuspert sich und reißt den Arzt damit aus seiner Starre. „Oh, bitte entschuldigen Sie. Ich beginne unten, mache eine Kontrolle sämtlicher Zähne, bevor wir dann zum Zahnsteinentfernen übergehen. Okay? Wir haben ein neues Gerät, das die Plaque mittels Ultraschalltechnologie entfernt. Viel angenehmer. Sie sagen einfach, wenn es Ihnen zu viel wird, dann machen wir eine Pause. Einverstanden?“ Ich nicke. Es ist mir jetzt schon zu viel, bevor er überhaupt angefangen hat. Das Gerät in seiner Hand macht mir Angst. Er legt es aber zum Glück zurück in die dafür vorgesehene Halterung. Als nächstes steckt er mir einen Sauger in den Mund, dessen flexible Form er an meinen Kiefer anpasst. Das Sauggeräusch verstärkt meine Angst. Ich spüre eine Berührung an meiner Hand. Meine Mutter. Ich lächle ihr zu und konzentriere mich wieder auf meine Atmung. Doktor Rausche hat einen Mundschutz aufgesetzt. Ich sehe ihn an, versuche Augenkontakt aufzunehmen. Er bemerkt es und sieht mich ebenfalls an. Die zarten Fältchen um seine Augen deuten ein Lächeln an, das leider unter dem Mundschutz verborgen bleibt. Dafür nimmt er jetzt ein spitzes Instrument vom Tisch. Kalte Schauer überziehen meinen Rücken. Mit diesem ‚Ding‘ kontrolliert er meine Zähne auf Karies oder andere Auffälligkeiten. Diese Prozedur dauert nicht lange und ist glücklicherweise beinahe schmerzlos. „Sieht gut aus. Keine Löcher. Natürlich hat sich wieder einiges an Zahnstein angesammelt. Putzen Sie mit einer Hand- oder einer Elektrozahnbürste?“
„H-hand“, bringe ich mühsam heraus, da mich der Sauger am Sprechen hindert.
„Nehmen Sie weiche Borsten und drücken Sie nicht zu fest. Ihr Zahnfleisch wird es Ihnen danken. So, dann kommen wir jetzt zum unangenehmen Teil, aber bitte, haben Sie keine Angst. Ich werde so sanft wie möglich sein“, höre ich den Arzt sagen.
„Davon bin ich überzeugt“, entgegnet meine Mutter. Ich quetsche ihre Hand. „Aua“, entfährt es ihr, was die Lachfältchen an Doktor Rausches Augen erneut hervortreten lässt. Er schüttelt beinahe unmerklich den Kopf, bevor er das Ultraschallgerät in die Hand nimmt und damit in meinen Mund eindringt. Mit einem Fußtaster startet er die Prozedur. Wasser spritzt an meine Zähne, prallt ab und verteilt sich in meinem Mund. Dazu das äußerst unangenehme, hochtonige Geräusch, das mich tief im Innern schmerzt. Ein kleiner Spiegel hilft dem Zahnarzt dabei, zu sehen, wo der Ultraschall seine Wirkung entfalten soll, um die Plaque zu entfernen. Ich spüre, wie die kleinen Stückchen in meiner Mundhöhle herumgeschleudert werden, bevor der Sauger sie entfernt.
„Geht es?“, will der Doktor wissen. Ich nicke. Es war noch nie so einfach. Das Funkeln in seinen Augen fasziniert und fesselt mich, wie noch nie etwas zuvor. Seine sanft geschwungenen Augenbrauen unterstreichen seine natürliche Attraktivität. Ich beobachte, wie sich seine Pupillen bewegen, sehe die leichte Anspannung seiner Stirn und versuche die Geräusche, den Schmerz und das unangenehme Gefühl an meinen Zähnen auszublenden. Bilde ich mir das ein, oder streichelt er mich sanft über die Lippen? Ich spüre seine Wärme durch die Handschuhe und genieße seine Berührung. Immer mal wieder blickt er mir direkt in die Augen, was mich lächeln lässt und mir ungeheure Entspannung bereitet. Ich weiß nicht ob Minuten oder Stunden vergangen sind, als er sagt: „So, das war’s. Bitte kräftig spülen.“ Er entfernt den Sauger und wischt mir Speichel mit einem Taschentuch aus dem Mundwinkel.
„Das … das war’s? Schon? Es … es hat gar nicht so wehgetan“, stammle ich. Der Zahnarzt lacht. Ein wunderschönes Geräusch.
„Sie haben sich tapfer geschlagen“, flüstert er mit einem Lächeln, bevor er sich umdreht, die Handschuhe auszieht und Notizen in meine Patientenakte macht. Ich sehe meine Mutter an, die mich liebevoll anlächelt.
„Das hast du gut gemacht, Schatz“, meint sie viel zu laut. Ich schenke ihr eine missbilligende Geste und verziehe meinen Mund, um ihr zu zeigen, dass sie solche Sprüche lassen soll. Ihre Reaktion? Sie lacht herzhaft. „Ach, mein Junge.“ Ich richte mich auf dem Stuhl auf, nehme einen kräftigen Schluck Wasser in den Mund und beginne die Reste der Zahnbehandlung zu entfernen. „So, ähm, Herr Doktor, ich habe mich gefragt, ob Sie nicht mit uns zu Abendessen wollen. Natürlich nur, wenn Sie den Abend nicht anderweitig verplant haben.“ Meine Augen weiten sich in purem Schock. Ich verschlucke mich und beginne zu husten. Das Wasser spritzt mir aus dem Mund – natürlich nicht in die dafür vorgesehene Keramikschale. Als ich mich wieder einigermaßen gefangen habe, platzt es aus mir heraus: „Mutter! Spinnst du?!“ Sie sieht mich nur lächelnd an, um dann ihre Aufmerksamkeit wieder dem Arzt zu schenken. Der sieht ähnlich perplex aus wie ich.
„Ich … also … eigentlich … das … also … noch nie“, er räuspert sich. „Sehr gerne, Frau Birchler.“ Ich sehe ihn mit weit aufgerissenen Augen an. „Natürlich nur, wenn du das auch willst, Adam“, spricht er mich direkt an. Ich sehe ihm tief in die Augen.
„Ich würde mich freuen.“
„Sehr schön, dann ist das geritzt. Um 19 Uhr bei uns? Sie haben ja die Adresse, oder Doktor?“
Ein zögerliches Nicken.
Die Verabschiedung geht viel zu schnell. Nach wenigen Minuten stehen meine Mutter und ich unten auf der Straße. Ich knuffe sie in die Seite. „Du sollst mich doch nicht verkuppeln, Mutter!“
„Ach, Junge. Ich habe doch gesehen, wie ihr euch angesabbert habt. Und ich bin sicher, dass du keinen Pieps rausgebracht hättest, also habe ich die Initiative ergriffen.“
„Ich bin fünfundzwanzig. Hör auf mich zu bemuttern.“
„Würde ich ja gerne, aber ich muss ja noch immer dein Händchen beim Zahnarzt halten. Da geht halt der Mutterinstinkt mit mir durch.“ Wir gehen schweigend nebeneinander her, bevor ich sie in den Arm nehme und fest drücke. Sie schlingt ihren Arm um meine Taille und lächelt sanft. „Jetzt muss ich nur noch Oma informieren, damit sie sich auf den Weg machen kann.“
„Wage es nicht!“
„Ach, Adam. Du kennst mich doch nun schon lange genug.“ Ich verdrehe theatralisch die Augen und seufze laut, was ihr ein Kichern entlockt.
Es klingelt an der Tür. „Ich gehe schon“, schreie ich durch den Flur in die Küche. Seit zehn Minuten bin ich unruhig auf- und abgegangen. Irgendwie habe ich gehofft, dass er nicht kommt. Andererseits hätte es mir das Herz gebrochen, wenn er es sich anders überlegt hätte.
Jetzt ist er da.
Ich öffne die Türe und blicke in diese funkelnd grünen Augen, die mich heute Vormittag in ihren Bann gezogen haben. „Hi“, stammle ich.
„Hi“, gibt er zurück. Er hält einen riesigen Blumenstrauß in der Hand und lächelt verlegen. „Die sind für deine Mutter“, erklärt er. Ich nicke. „Aber die hier“, er deutet auf seine Jackentasche, „sind für dich.“ Ich greife ihm in die Jacke und ziehe eine Packung Kondome hervor. Ich starre ihm unverwandt ins Gesicht. Er runzelt irritiert die Stirn und blickt nach unten. „Oh, nein. Scheiße. Ich … nein. Also die auch … vielleicht, wenn du magst, aber eigentlich … in der anderen Tasche.“ Jetzt ist er es, der sprachlos ist. Ich grinse ihn lüstern an und stecke die Kondome zurück in seine Jackentasche, um aus der anderen eine Schachtel mit Pralinen zu fischen.
„Aww, wie süß. Danke dir“, sage ich und hauche ihm ein Küsschen auf die Wange. Er riecht gut. Sehr gut. „Komm doch herein. Ich muss dich noch warnen: meine Familie ist … naja … speziell.“
„Ja, das habe ich heute Morgen schon herausgefunden“, spottet er.
„Also es ist so, meine … meine …“, ich werde unterbrochen. Die Tür zur Küche geht auf und herauskommt meine Großmutter mit ihrem Gehstock. Sie lächelt wissend, kommt näher und streckt meinem Zahnarzt die Hand hin.
„Hallo. Ich bin die Oma dieses hübschen Kerlchens. Sehr erfreut, Sie kennenzulernen.“ Danke, Oma. Wirklich sehr toll. Der denkt ja, dass ich vollkommen bescheuert bin.
„Die Freude ist ganz meinerseits“, entgegnet Matthias mit einem Lächeln. Gott. Er ist so süß und anständig und lieb und ach, er ist perfekt.
„Zahnarzt und gute Manieren hat er auch noch. Da hast du aber einen guten Fang gemacht, Adam“, entgegnet sie emotional, bevor sie Matthias zu sich herunterzieht und ihn auf die Wange küsst. „Den musst du gut festhalten und ihm alle Wünsche erfüllen. Hast du gehört?“, will sie von mir wissen, während sie Matthias zuzwinkert. Meine Augen weiten sich in purem Schock. Ich stehe mit offenem Mund da, wie gelähmt von ihren unverfrorenen Worten. Ohne eine Reaktion abzuwarten, dreht sie sich um und geht in Richtung der Küche. Ich sehe ihr, noch immer um Fassung bemüht, nach und bringe keinen Mucks heraus.
„Ich … ähm … oh Mann“, bringe ich heraus, bevor ich heftig den Kopf schüttle. Meine Oma ist ja noch schlimmer als meine Mutter. Ich hätte nicht gedacht, dass das möglich ist. Aber Matthias sieht nicht geschockt oder peinlich berührt aus. Seine wundervollen Augen strahlen und ein bezauberndes Lächeln ziert seinen Mund.
„Komm, Adam. Zeig mir, wie du wohnst und stell mir deine Familie vor. Ich kann es kaum erwarten, dich näher kennenzulernen.“
„Wirklich?“ Er nickt.
„Weißt du, ich bin sehr froh, dass mich deine Mutter zum Abendessen eingeladen hat.“
„Ach, ja?“
„Klar. Ich hätte nie den Mut gehabt, dich anzusprechen. Und jetzt bin ich hier, kann diesen Abend mit dir verbr…“
„Und meiner Familie“, fahre ich ihm ins Wort. Er lacht und nickt.
„Ich kann diesen Abend mit dir und deiner Familie verbringen und darauf freue ich mich riesig.“ Unser erster Kuss ist sanft und scheu und doch so unheimlich betörend und gefühlvoll. Ich nehme ihn an der Hand und führe ihn in die Küche, wo der Tisch bereits gedeckt ist und mein Vater, meine Großmutter und meine kleine Schwester darauf warten, den Zahnarzt kennenzulernen. „Guten Abend allerseits“, grüßt er die Runde und reicht meiner Mutter den riesigen Blumenstrauß.
„Oh mein Gott, Matthias, bist du wahnsinnig?!“, entfährt es ihr. Sie reißt ihm die Blumen förmlich aus der Hand, legt sie sorgsam auf den Küchentresen und schlingt ihn in eine knochenbrechende Umarmung. Mein Zahnarzt verfällt in eine Art Schockstarre. Mit geweiteten Augen sieht er mich an.
„Da musst du jetzt durch“, sage ich grinsend. Er lächelt warm und nickt, bevor er die Arme um meine Mutter legt und sie zurückumarmt. Ich sehe der herzerwärmenden Szene zu und verliere mich in meinen Gedanken: Danke, Mama. Danke, dass du mich so akzeptierst wie ich bin. Danke, dass du mich so liebst, wie ich bin. Danke, dass du meine Mutter bist.
Danke, Ma.