(Die nachfolgenden Schilderungen sind stark übertrieben und dennoch entsprechen sie einer Form der Wahrheit, wie ich sie gerne für meine Geschichten nutze. Die zum Teil abstrusen Szenen wurden von mir persönlich beobachtet, nicht aber erlebt. Viel Freude beim Lesen.)
- Dezember 2015, 8.30 Uhr
Ich drücke frohen Mutes und gut gelaunt – entspannt von der erlebten Urlaubswoche während der Weihnachtsfeiertage – die altmodischen Knöpfe auf dem übergroßen Steuerungstableau, um die Türen zu entriegeln. Mit der längst überholten Steuerungszentrale kann die gesamte Schalterhalle von einem Punkt aus bedient werden. Eine Glasscheibe fährt zurück und die Flügel der Drehtür beginnen zu rotieren, regeln den Kundenansturm. Aufgrund der Feiertage ist unser Personalbestand derart ausgedünnt, dass die zarte Konstruktion bei der kleinsten Erschütterung zerbrechen könnte, darum werde ich auch zweckentfremdet am Informationsschalter eingesetzt. Heute wird es nicht viele Kunden geben!, denke ich. Eine Täuschung. Mit der Geschwindigkeit eines Kolibri-Flügelschlags reihen sich 30 Personen vor den Schaltern ein und bilden eine Schlange, die bis zum Eingang reicht.
Meine gute Laune verpufft.
- Dezember 2015, 8.32 Uhr
Mit weit aufgerissenen Augen und purer Fassungslosigkeit starre ich die Menschen an, die mit einer unterdrückten Aggression, die sehr dicht an der Oberfläche kratzt, anstehen. Ich blinzle zweimal, aber die Meute verdichtet sich noch. Inzwischen stehen die Kunden bis auf die Straße, einem Bank Run gleich. Es scheint so, als seien den Leuten während der 3.5 bankfreien Tage, wovon zwei ein normales Wochenende waren, sämtliche Geldreserven durch die Finger geronnen.
Es ist ja nicht so, als gäbe es Geldautomaten und Internet Banking.
Selbst der allerletzte Kunde unserer mittelständischen Bank braucht Geld und das kann er – so scheint es – nur an einem in den letzten Jahren stetig reduzierten Bankschalter beziehen. Nervös tippen einige mit ihren Schuhen auf den Boden, es wird auf teure Armbanduhren gestarrt, geseufzt und leise vor sich hin gemeckert. Im Sekundentakt verfinstert sich die kollektive Grundeinstellung der Wartenden. Angestachelt von der miesen Laune der Mitwartenden braut sich ein Sturmtief inmitten der Schalterhalle zusammen, das von äußerst zerstörerischem Ausmaß ist.
Und diese ganze gesammelte Wut wird bei mir abgeladen, wie Gewitterwolken, die ihre Kraft explosionsartig über einem einzigen Landfleckchen entladen. Ich sitze vereinsamt an einem Rondell, wo mich jeder sehen kann. Verächtliche Blicke treffen mich. In ihren Köpfen geistert eine einzige Frage mehr als offensichtlich umher: Warum öffnet dieser schwule Halbaffe nicht einen weiteren Schalter?
Ich kann nicht! Ich bin ein Kundenberater und kein Schalterangestellter!
- Dezember 2015, 10.45 Uhr
Nachdem ich den gefühlt tausendsten Kunden mit dem Satz „Guten Morgen, was kann ich für Sie tun?“ begrüßt habe und nichts als Verachtung, Hass und Anfeindung gespürt habe, merke ich, wie mich meine Kraft, mein Enthusiasmus, ja sogar meine Lebenslust verlässt. Meine gute Laune hat sich tief, tief, tief, wirklich tief unten in einem dunklen Ozean verkrochen, wo die fehlenden Sonnenstrahlen Kreaturen purer Hässlichkeit entstehen lassen. Aber ich stehe aufrecht, entgegne jedem Kunden Ehrerbietung und Achtung. Ein einziger Gedanke hält mich am Leben: Es ist bald Mittag, es ist bald Mittag. Ich beantworte Fragen, buche Geld von einem Konto auf das andere, erstelle Daueraufträge und Zahlungsanweisungen und melde Kunden bei ihren Beratern an. Ich komme mir vor wie ein Krankenpfleger, der die zitternden Hände der Patienten tätschelt und ihnen gespieltes Verständnis an einen dunklen Ort pustet.
Bald ist das Jahr zu Ende!, wiederhole ich wie ein Mantra.
- Dezember 2015, 11.30 Uhr
Die Schlange wartender Kunden ist nur unmerklich geschrumpft – viel eher haben sich die Gesichter verändert. Noch immer starren mich viele an, schauen auf die Uhr und tippen mit den Schuhen auf den Marmorboden. Da treten drei Personen an mein Rondell. Eine uralte Greisin, die sich nur dank der modernen Medizin in einem lebensähnlichen Zustand hält und ihre nur geringfügig jüngeren Söhne. Sie wollen das Schrankfach des kürzlich verstorbenen Ehemannes, bzw. Vaters auflösen. Wie Aasgeier stürzen sie sich zwei Tage nach dem Tod des Familienoberhaupts und am ersten Banköffnungstag auf das spärliche Erbe, das der Alte im Safe gebunkert hat. Da ich so etwas noch nie gemacht habe – da ich quasi als Aushilfe an diesem Desk eingesetzt werde – gerät mein Blut in Wallung, Schweiß bedeckt meine Stirn und mein Puls beginnt zu rasen. Hilfesuchend wende ich mich an meine neue Chefin, die genervt entgegnet: „Ich muss jetzt los, damit ich rechtzeitig zum Pilates komme. Du schaffst das schon.“ Damit ist sie weg und ich mir alleine überlassen mit dreißig Augenpaaren, die mich unnachgiebig durchbohren, deren Gedanken ich förmlich hören kann und drei Menschen, deren abstoßender Körpergeruch mich in eine Art Trancezustand versetzt.
Die Kacke dampft. Was für ein genialer Abschluss des Jahres. Der schönste Moment am heutigen Tag ist, als ich die Tür um 12 Uhr über die altmodischen Knöpfe schließen und in den Mittag fliehen kann.