Ich bin extrem stolz auf uns! Wir haben zwei Tage lang geschwitzt, geflucht, gespachtelt, gestrichen und tapeziert. Aber jetzt ist es geschafft. Wir haben unser Wohnzimmer generalüberholt und sehen deshalb aus, als wären wir einem Farbeimer entstiegen. Haare, Kleider, Arme, Hände, ja sogar die Brillen sind mit weißen Farbspritzern gesprenkelt.
Aber es hat sich gelohnt.
Wo vor zwei Tagen noch triste, vergilbte Tapeten den Eindruck einer jahrzehntelang nicht renovierten Wohnung vermittelt haben, unterstreichen nun strahlend weiße Wände jugendliche Frische, Modernität und Eleganz. Gelegentlich haben wir das Weiß mit einem Kaffeebraun oder einem Apfelgrün akzentuiert.
Perfekt.
Die Hausverwaltung hat es nicht für notwendig erachtet, neu zu streichen, als wir eingezogen sind. Darum haben wir diese Aufgabe selbst übernommen. Die Tapeten und die Farbe sollten noch ein, zwei Tage trocknen, weshalb wir das TV-Möbel mit einigem Abstand zur Wand positioniert haben. Ein funkelnagelneuer Flachbildschirm sowie ein komplettes Soundsystem inklusive Blu-ray-Spieler ist das Weihnachtsgeschenk, das wir uns gegenseitig gemacht haben. Jetzt sind wir gut ausgerüstet und können die ersten Gäste empfangen.
Meine Eltern.
Schon im Flur fällt ihnen das frische Strahlen des Wohnzimmers auf, was sie magisch anzuziehen scheint. „Das habt ihr ja genial hinbekommen, Jungs“, lässt meine Mutter verlauten. Sie sieht sich in unserer neuen Stube um und ist hin und weg. Die Bilder stehen noch am Boden, aber an dem Plätzchen, wo sie später an die Wand kommen sollen. Auch mein Vater ist begeistert.
„Genial gemacht. War sicher viel Arbeit, oder?“ Wir diskutieren noch einige Minuten über die Strapazen der letzten Tage und beantworten ihre Fragen, bevor ich zu Kaffee und Kuchen lade. Meine Mutter, Stephan und ich ziehen uns ins Esszimmer zurück, wo ich ein Dessertbuffet aufgefahren habe. Es gibt Kuchen, Mousse, Roulade und Schoggigipfeli.
„Ich hole mir eine Cola vom Balkon!“, brüllt mein Vater aus dem Wohnzimmer.
„Ja, klar, bediene dich“, schreie ich zurück, da ich weiß, dass er nicht mehr gut hört. Im Winter nutzen wir unsere Terrasse gerne, um Getränke kühlzustellen. Vor allem, wenn der Kühlschrank so berstend voll ist, wie an den Festtagen. „Ich brauche sowieso noch etwas vom Balkon. Entschuldigt mich bitte, ich gehe Vater helfen“, sage ich zu Stephan und meiner Mutter, bevor ich durch die Tür ins Wohnzimmer trete. Mein Vater hat die Cola Flasche gefunden und kommt damit zurück in die Wohnung. Ich lächle ihn an.
Da passiert es.
Durch eine ungeschickte Bewegung rutscht ihm die 2-Liter-Plastikflasche aus der Hand. Wie in Zeitlupe rauscht sie zu Boden. Ich beobachte das Ganze, kann mich aber nicht bewegen und bringe keinen Mucks heraus. Mit einem dumpfen Knall schlägt das Gebinde auf dem Parkettboden auf, tanzt wie eine Ballerina über das Parkett und dreht seine Pirouetten. Mehr geschieht nicht. Noch nicht. Ich sehe gelähmt zu, wie sich die Kohlesäure im Innern des verschlossenen Behälters explosionsartig ausdehnt. Durch den unbändigen Druck entstehen millimeterkleine Risse am Flaschenhals, aus denen die zuckrig klebrige Flüssigkeit herauspulsiert. Ich kreische hochtonig und eile auf die Flasche zu. Mein Vater steht wie angewurzelt in der Balkontür und sieht mit schockgeweiteten Augen dem Austreten der Flüssigkeit zu. Das Cola spritzt an die Wand, auf den Fernseher, die Stereoboxen und den Blu-ray-Player. “Nein, nein, nein!”, kreische ich aufgelöst. Bevor ich die außer Kontrolle geratene Plastikflasche greifen kann, zerspringt die dünne Plastikmembran und der Flaschenhals wird einer atomaren Explosion gleich an die Decke geschleudert, wo er einen dunklen Abdruck hinterlässt. Wie ein Geysir spritzt die zuckerschwangere Limonade an die Wand und taucht die trocknende Tapete in Flüssigkeit. Der brandneue Fernseher erhält eine Art Taufe, wie es vor der Jungfernfahrt eines Schiffes gerne gemacht wird. Nur bringt es hier kein Glück, sondern besiegelt das einwandfreie Funktionieren des 88 Zoll Samsung Curved TV. Der Rest des Colas ergießt sich über den Boden, wo ich kauere und mir das Unglück ansehe.
Entgeistert und schockgelähmt.
Zum Teufel mit den kaffeebraunen Akzenten!, denke ich wütend, als ich die dunkelbraunen Flecken auf der ganzen Breite der Wand anstarre. So viel zu der ganzen Arbeit, die wir hatten! Innerlich baut sich eine unbändige Wut auf, die mich zu zerreißen droht. Meine linke Augenbraue zuckt verdächtig und meine Lippen beben. Als nächstes löst sich die Bahn Ornament-Tapete, die wir als Eyecatcher angebracht haben und fällt über den Fernseher. An anderen Stellen entstehen Blasen unter der Wandverkleidung. Mein Mann und meine Mutter eilen ins Wohnzimmer, um das große Finale mitanzusehen. Mit einem lauten Puff und aufsteigenden Rauchwölkchen zeigen sowohl der brandneue Flachbildschirm als auch das Soundsystem, was sie von der Cola Taufe halten. Ich wippe irrelachend hin und her, bevor ein gellender Schrei die schmale Gasse durchdringt, an der sich unser Wohnblock befindet.
Dunkelheit verschlingt mich.
In diesem Moment schrecke ich schweißnass aus meinem Albtraum auf. Ich greife mir an den Hals. Mein Puls ist derart beschleunigt, dass mich auf der Stelle ein Herzinfarkt ereilen würde, wäre ich ein 70-jähriger Rentner. Ich schlage die Decke zurück, stehe auf und haste nackt ins Wohnzimmer. Es war alles ein böser Traum. Die Tapeten sind strahlend weiß und der Curved HD-TV von Samsung steht an seinem Plätzchen. Ich atme erleichtert aus und lache über meine lebhafte Fantasie. Als ich mich abdrehen will, entdecke ich an der Wand hinter dem Fernseher einen Fleck. Ich gehe näher. Eine dunkelbraune, klebrige Flüssigkeit ziert die Wand. Ich berühre sie mit dem Finger und führe meine Fingerkuppe an den Mund. Mit der Zunge koste ich die klebrige Flüssigkeit und erstarre: Cola.
Ende