„Willst du es nochmal versuchen?“, fragt der Skiliftwart zögerlich und mit einem unterschwelligen Ton, der schreit: Lass es bleiben, Kleiner, du schaffst es nie auf diesen Berg. Finnley ignoriert die entmutigende Attitüde des Mannes und der wartenden Leute, nickt, klemmt sich die Stöcke unter den linken Arm, dreht den Oberkörper zum herannahenden Bügel und streckt die rechte Hand aus. Stürmisch schießt der mit Plastik ummantelte Stahlbügel um die Seilscheibe und rast ungebremst auf Finnley zu. Er schließt die Augen und schickt ein Stoßgebet in den Himmel. Als er die Lider wieder öffnet, fährt er erschrocken zusammen. Der Bügel schlingert. Das klappt nie! Nie! Dieses Teil wird mich aufspießen oder mir den Schädel spalten!, denkt Finn ängstlich. Ich muss es schaffen! Mit zittrigen Fingern krallt er sich das abgewetzte Plastik und wuchtet den schwarzen Bügel unter seinen Hintern. Für eine Nanosekunde hält er inne, wartet, dass er wie beim ersten Anlauf in den Schnee geschleudert wird.
Nichts dergleichen passiert.
Es hat geklappt! Ha! Ich habe es geschafft! Die Halterung des Bügels wird am Trägerseil weitergezogen, während Finnley noch an Ort und Stelle steht. Da staunt ihr, ihr verdammten Idioten!, frohlockt Finn innerlich. Mit einem starken und unverhofften Ruck wird die Gestalt des unerfahrenen Wintersportlers aus dem Stand nach vorne katapultiert. Er wird mitgeschleift und schwankt unbeholfen über den plattgedrückten Schnee, der die Fahrbahn bildet. Ein hochtoniger Schrei entreißt sich seiner Kehle und schallt durch die Berge. Schneebretter drohen als Lawinen ins Tal zu donnern. Ein kleines Mädchen hält sich die Ohren zu.
„Ganz ruhig bleiben. Nach vorne sehen und ruhig bleiben!“, brüllt der Aufseher seine gutgemeinten Anweisungen. Doch Finn scheint ihn nicht mehr wahrzunehmen, befindet sich in seiner eigenen, von Panik erfüllten Welt. Er fuchtelt wild und unkontrolliert mit den Armen, während einer der Skistöcke zur Seite in den Tiefschnee fliegt. Mit dem anderen Stock vollführt er ein Tänzchen, das alles andere als geschmeidig aussieht. Krampfhaft versucht er sich auf dem Bügel zu halten, auch wenn alle Zuschauer wissen, dass es nur eine Frage der Zeit ist. Plötzlich kippt er – als ob man ihm den Stecker gezogen hat – zur Seite und bleibt mit dem Gesicht voran im Neuschnee liegen. Der verwaiste Bügel schnellt an das Stahlseil zurück und schlingert für ein paar Sekunden. Finn dreht das Gesicht aus dem Schnee, um zu atmen. Der wunderschöne Tag hat sich in einen großen, dampfenden Haufen Kacke verwandelt. Hinter Finnley sind bereits zwei neue Personen auf dem Weg den Berg zu erklimmen. Sie fahren am Verunfallten vorbei und sehen ihn abschätzig an. Die Frau grinst schadenfroh und sieht mit ihrer verspiegelten Sonnenbrille wie eine übergroße Schmalzfliege aus.
Blödes Weib.
Mit dem Stock schiebt der Mann Finns herumliegenden Ski aus der Fahrbahn. Kein aufmunterndes Wort, keine Nachfrage, ob er sich verletzt hat, nichts. Nur unbegründete Verachtung, Spott und Hohn. Nächstenliebe? Fehlanzeige. Finnley steht fluchend auf, schüttelt den Schnee ab und sucht seine Handschuhe, die Ski und Stöcke zusammen. Es ist kalt und ungemütlich. Der Schnee in Finns Kragen verwandelt sich langsam in eisiges Wasser, das seinen Rücken herunterrinnt. Selbst das kleine Mädchen, das sich vorher die Ohren zugehalten hat, kann es besser. Sie fährt mit ihrer Mama an Finnley vorbei und schenkt ihm ein liebenswertes Kichern. Seine Freunde sind alle oben und werden ihn bei der nächsten Fahrt immer noch hier unten vorfinden. Mit Sicherheit. Finnley schleppt sich und seine gefühlt tonnenschwere Ausrüstung zum Hüttenwart und stellt sich an.
„Hey, stell dich gefälligst hinten an! Wir wollen nämlich heute noch zum Fahren kommen, du Pfeife!“, zischt jemand. Andere Leute grummeln ihre Zustimmung. Was für eine Demütigung. Geduckt geht Finnley an den wartenden Sportlern vorbei, ohne sie anzusehen. Was für ein beschissener Tag! Ihr habt recht, ich bin eine Pfeife.
„Hey, Kleiner. Stell dich neben mich“, entgegnet ein Mann mit einer dunklen, erotischen Stimme. Finn sieht auf und blickt in das Gesicht eines attraktiven Mittdreißigers. Er ist kräftig, breitschultrig und trägt einen dunklen, gepflegten Vollbart. Seine Augen funkeln magisch. So etwas hat Finn noch nie gesehen: So hellblau wie ein Gletschersee mit weißen Sprenkeln. Wow. Es fühlt sich so an, als ob der attraktive Fremde mit einem einzigen Blick in Finns Seele eintaucht. In ihm beginnt es zu kribbeln und er fühlt, wie er sich von diesem Mann angezogen fühlt. Er nickt verlegen, stellt sich viel zu dicht daneben und starrt auf seine Skischuhe, bevor er die Bretter auf den Boden legt und sich einklinkt.
„Danke“, gibt er zurück. Ein zustimmendes Grummeln ist alles, was er dafür erntet. „Ich … ich kann das nicht …“, murmelt Finn kaum hörbar. Der Mann dreht sich zu ihm um und sieht ihm tief in die Augen. Da ist es wieder, dieses leuchtende Blau.
Finnley entspannt sich augenblicklich.
Irgendetwas hat dieser Typ an sich. Seine dunklen, wohlgeformten Augenbrauen und sein sinnlicher Mund unterstreichen seine natürliche Attraktivität, die Finns Blut brodeln lässt. „Du stellst dich neben mich. Ich werde dir den Bügel reichen. Dann hältst du dich fest und machst dich auf einen Ruck gefasst. Okay? Es wird alles gut gehen. Locker bleiben und geradeaus schauen. So klappt es. Versprochen.“ Diese Stimme, derart tief und sanft, verwandelt Finnleys Beine in Pudding. Er stützt sich verzweifelt auf seine Skistöcke, bewahrt sich damit vor einem peinlichen Sturz und kann sich dennoch nur knapp aufrechthalten. Die Männer warten ein paar Minuten schweigend nebeneinander, bevor sie durch das Drehkreuz gehen, das die Menschenmenge steuert. Der Hüttenwart lächelt, als er das ungleiche Paar entdeckt. Er grummelt etwas Unverständliches. Finn weiß genau, was er denkt. „Ignorier ihn. Schau geradeaus, konzentrier und entspann dich“, kommen die Anweisungen mit dieser unheimlich betörenden, sanften Männerstimme. Woher weiß er …, denkt Finn, verwirft den Gedanken aber, als der Bügel um die Drehscheibe schießt. Jetzt geht alles sehr schnell. Finn spürt den Bügel an seinem Gesäß, greift ihn und los geht die Fahrt. Der Rückstoß ist bei zwei Personen nicht so heftig, was Finnley zugutekommt. Die ersten Meter sind geschafft und Finnley entspannt sich langsam auf dem Bügel, der ihn auf den Berg befördert. Er sieht den neben ihm sitzenden Mann verstohlen an und lächelt in sich hinein.
„Danke“, flüstert er nach einer Weile träumerisch.
„Kein Ding. Aber bist du sicher, dass du von diesem Berg wieder herunterkommst?“, will der Fremde mit den funkelnden Augen grinsend wissen.
„Ich kann Skifahren!“, gibt Finn gekränkt und trotzig zurück.
„Das hoffe ich für dich, Kleiner. Das hoffe ich!“, entgegnet der Mann mit einer Stimme, die Finn direkt in die Lenden schießt. Was macht dieser Kerl mit mir? „Fährst du das erste Mal Ski?“
„Nein. Ich … vor einem Jahr … ich … schon mal“, stammelt Finn wie ein Vollidiot. Dieser Mann löst irgendetwas in ihm aus, das er weder benennen noch richtig greifen kann. Er sammelt sich kurz und meint ruhiger: „Ich bin erst einmal gefahren, aber in dem anderen Skigebiet gab es viele Sessellifte, weshalb ich die Schlepplifte gemieden habe!“
„Verstehe … Hier wirst du nur zwei Sessellifte finden, Kleiner. Du gewöhnst dich also besser an die Schlepper …“, gibt der Mann mit einem Lächeln im Gesicht zurück. Er wirkt geheimnisvoll. Finn nickt und starrt auf die vorbeiziehende Landschaft. Vereinzelte kälteresistente Vögel sitzen auf den kahlen Ästchen der Bäume und gierige Eichhörnchen flitzen über den Schnee und suchen Nahrung. Die Sonne reflektiert in unzähligen Schneekristallen und lässt die Landschaft wie Diamanten funkeln. Das strahlende Wetter versucht über die klirrende Kälte hinwegzutäuschen. Der geheimnisvolle Mann scheint keinerlei Kälte zu spüren. Er hat keine Handschuhe an – es sieht aber nicht so aus, als ob es für ihn unangenehm kalt wäre. Merkwürdig. Es ist, als ob Finn die Körpertemperatur des Fremden durch die isolierenden Winterklamotten hindurch wahrnehmen und fühlen kann. Der Mann ist wie ein mobiler Elektroofen. Am liebsten würde Finn sich an dessen Schulter lehnen, in die Wärme eintauchen und sich umarmen lassen. Dazu wird es leider nie kommen. „So, Kleiner. Wir sind bald oben. Wenn wir über den höchsten Punkt fahren und du merkst, wie du an Eigentempo gewinnst, schiebst du dich zusätzlich mit den Stöckchen an, entfernst dich vom Bügel und fährst ein paar Meter vom Skilift weg. Okay?“
„Was muss ich? Wohin soll ich? Was passiert, wenn ich nicht rechtzeitig wegkomme?“, will Finn aufgeregt wissen.
„Dann wirst du am Bügel in die Seilscheibe gezogen. Dein kleines Körperchen wird sich in der Konstruktion verheddern und den Skilift zum Stillstand bringen …“, beginnt der Fremde seine Erzählung. Er stoppt, als er Finnleys Gesichtsausdruck sieht.
Panik. Entsetzen. Angst.
Er klopft ihm aufmunternd auf die Schulter und flüstert ihm ins Ohr: „Das war nur ein Scherz, Kleiner. Du schaffst es!“ Angsterfüllt starrt Finn zur Ausstiegsstelle. Sein Herz schlägt so schnell, dass es auszusetzen droht. Die kräftige Hand auf seiner Schulter vermittelt Ruhe und Kraft. Da ist sie wieder, diese unnatürlich intensive Wärme, die ihn sofort beruhigt. Als es so weit ist, stößt sich Finn mit den Stöcken ab und schlittert davon. Er fällt weder auf seinen knackigen Hintern, noch blamiert er sich anderswie. „Einen schönen Tag, Kleiner!“, wünscht ihm der fremde, gutaussehende Mann, als er an ihm vorbeibrettert.
Wie ein Athlet.