Die Typen spucken ihn an. Es ist erniedrigend.
„Bitte … lasst mich in Ruhe, ich … ich habe euch nichts getan. Bitte!“, wimmert Ray verzweifelt. In seinem Innern baut sich eine ungeheure Angst auf. Todesangst. Die nach Kaugummi und Zigaretten riechende Flüssigkeit in seinem Gesicht ekelt ihn dermaßen an, dass er kotzen könnte, aber er getraut sich nicht, sie wegzuwischen. Er will die Schläger nicht provozieren.
„Du wollen uns anmachen? Verdammte Sau!“, schreit der lange Dünne und tritt dem wehrlosen Opfer in die Beine, die sofort nachgeben. Ray schlägt mit seinen Knien hart auf den Boden auf. Er hat niemanden angemacht, er ist einfach hier langgelaufen. Wie es jeder an einem schönen Sommerabend tut. „Du abartig sein! Schwanzlutscher!“, wütet er, bevor er mit seinen Adidas Turnschuhen zutritt.
Hart. In Rays Bauch.
Wimmernd rollt er sich zusammen, versucht seinen Körper und seinen Kopf vor der Brutalität der Gang zu schützen. „Bitte, hört auf. Bitte!“, fleht er mit verzweifelter Stimme. Der massige Typ kommt auf Ray zu, holt aus und tritt in das Gesicht des Opfers. Schreie purer Verzweiflung und des Schmerzes entweichen Ray. Sein Mund füllt sich mit diesem ekligen, metallischen Geruch von Blut. Der kleine Aufgepumpte kniet sich zu Ray auf den Boden, greift mit seiner Faust in Rays Haare und zieht ihn hoch.
„Jetzt werden wir zeigen, wie viel du wert bist. Du bist Scheißdreck!“, damit schlägt er Rays Kopf mit voller Kraft auf den harten Betonboden. Pochende und pulsierende Schmerzen breiten sich in Rays Körper aus, sodass es ihm kurzzeitig schwarz vor Augen wird und er das Bewusstsein verlieren möchte. Es folgt der nächste Tritt in seine Weichteile. Ray wimmert. Aus dem einen Auge kann er nichts mehr sehen, so geschwollen ist es. Weitere Tritte folgen in Richtung seines Gesichts. Kopfschmerzen fluten sein System, er droht erneut das Bewusstsein zu verlieren.
„Du haben gern in Arsch? Wir dir geben richtige Männer!“, brüllt die Bohnenstange. „Haltet Schwuchtel fest, ich ihm geben meinen Hammer!“ Die Kollegen jubeln und plustern sich noch mehr auf, bevor sie Rays Hände über seinen Kopf ziehen und ihn festhalten. Der Dünne macht sich an Rays Hosen zu schaffen, zerrt daran, bis sie nachgeben, aufreißen. Mit dem Gesicht nach unten halten ihn die Typen fest, während er sich die Seele aus dem Leib schreit und hofft, dass ihm jemand zur Hilfe eilt.
„Bitte nicht. Bitte. Nein. Ich will nicht. Hört auf, lasst mich. Bitte nicht“, fleht er flüsternd, weil sein Kiefer so wehtut, dass er kaum noch ein Wort herausbringt. Sein ganzer Körper pocht und sendet Schmerzboten in sein Gehirn, die sich dort überschlagen und ihm den Verstand rauben.
„Wir dich ficken, bis du blutest, du verdammte Schwuchtel“, kommentiert einer, bevor er an seiner eigenen Hose herumhantiert und seinen halbsteifen Penis entblößt. Er drückt ihn an Rays Eingang, lehnt sich zu ihm nach vorne und flüstert in sein Ohr. „Du wirst haben lebenslange Schmerzen, du kleine kranke Sau!“ Er packt Rays Haare, zieht seinen Kopf nach hinten und schlägt den jungen Mann erneut auf den harten Asphalt.
Ein Knacken ist zu hören.
Rays Schmerzen, seine Angst, die Panik und alles was an diesem grausamen Ort, in diesem Moment passiert, verschwindet in einer alles vereinnahmenden Dunkelheit. Er verliert das Bewusstsein und taucht in eine diffuse, verschwommene Welt ein, die ihn umschmeichelt und gefangen hält.
Als der junge Mann in Gregs Armen langsam aufwacht, fällt dem Retter ein Stein vom Herzen. Nachdem er den einen Typen verprügelt und mit der Polizei gedroht hat, haben die Schweine von ihrem Opfer abgelassen und sind wie feige Hunde davongerannt. Greg hat das Opfer angesprochen, bekam keine Antwort.
Panik durchflutete Greg.
Er hat den Bewusstlosen aufgehoben und ist auf dem Weg zum nahen Krankenhaus. Zwei Blocks sind es. Die Nase des Verletzten sieht ungesund und gebrochen aus. Geronnenes Blut klebt an den Nasenlöchern, während der dicke, dunkelrote Blutfluss noch nicht versiegt ist. Er hat Schürfungen an den Armen, den Händen und am Gesicht. Greg sieht ihn ganz genau an. Er wirkt zart, verletzlich und hilfebedürftig. Seine Lippe ist aufgeplatzt und doppelt so dick wie normal. Sein linkes Auge sieht total ramponiert aus. Aber man kann sehen, dass er hübsch ist, genau nach Gregs Geschmack, was jetzt egal ist. Es geht darum, diesem Jungen das Leben zu retten.
Greg geht schneller.
„Hey, Kleiner. Ich helfe dir! Ich bringe dich ins Krankenhaus“, flüstert Greg mit der sanftesten Stimme, die er besitzt. Er will ihm Zuversicht und Sicherheit vermitteln. Viel mehr als ein Wimmern bekommt er nicht als Antwort. „Alles wird gut, wir sind bald da!“ Der junge Mann sieht Greg ins Gesicht. Ihre Blicke treffen sich und irgendetwas passiert in diesem Augenblick. Der Verletzte schlingt seine Arme um Gregs Hals und versteckt sein Gesicht in dessen Halsbeuge, sucht Zuflucht. Wimmernde Geräusche entweichen dem Mann, während Greg warme Feuchtigkeit an seinem Hals spürt. „Nicht weinen. Es wird alles gut.“
„Danke“, kommt es krächzend zurück. „Danke, danke, danke!“, wimmert Ray. Sein ganzer Körper tut weh, unheimliche Schmerzen. Einzig das Schlagen des Herzens seines Retters und der betörende Duft, den er ausstrahlt, beruhigen ihn. Neben den schier unerträglichen Schmerzen, fühlt er etwas anderes: Das Gefühl von Geborgenheit.
„Dafür nicht!“, brummelt Greg und drückt ihn noch fester an seinen Körper.
Als Ray das nächste Mal aufwacht, liegt er in einem Krankenbett und starrt an die Decke des Zimmers. Grelle Neonröhren erhellen den Raum. Ray muss blinzeln und kommt langsam zu sich. Sein Kopf wirkt wie in Watte gepackt, er sieht auch nur verschwommen. Eines seiner Augen ist mit einem Verband verdeckt. Ray greift danach und stöhnt vor Schmerzen.
„Bleiben Sie ruhig, Herr Imhof. Sie wurden schwer zusammengeschlagen. Sie befinden sich im Kreiskrankenhaus Zürichsee. Brauchen Sie noch mehr Schmerzmittel?“
„Aaah … ich … ich … der Mann hat mich gerettet“, krächzt er. Die Krankenschwester kommt näher hin und lehnt sich zu ihm herunter. „Wo ist der Mann, der mich gerettet hat?“
„Der wartet draußen. Ruhen Sie sich aus und wenn sie sich erholt haben, kann er zu Ihnen. Okay? Ihre Mutter ist auf dem Weg!“ Ray hat keine Kraft, um darauf zu reagieren. Dabei will er nichts mehr, als nochmal in diese blauen, strahlenden Augen zu sehen. Es war das erste, das ihm aufgefallen ist, als er in den Armen des Mannes aufwachte. Diese Augen.
Er schließt die Augen und schläft erneut ein.
„Junge? Krümelchen? Wie geht es dir, sieh Mama an. Komm schon, öffne die Augen!“, vernimmt er eine bekannte Stimme.
„Mama?“, krächzt Ray.
„Ja, komm, öffne die Augen.“ Als sich Rays Pupillen an die Helligkeit gewöhnt haben und er seine Mutter wahrnehmen kann, wird er von ihr in eine knochenbrechende Umarmung gehüllt. Er schreit auf. „Entschuldige, Schatz. Ich … ich bin so froh, dass du lebst … Was machst du für Sachen?“
„Wo … wo ist mein Retter?“
„Dein Retter? Du meinst den jungen Mann, der dich hergebracht hat? Er sitzt im Wartezimmer“, antwortet seine Mutter.
„Ich will ihn … ihn sehen.“
„Denkst du nicht, dass du dich noch ausruhen solltest?“, will seine Mutter besorgt wissen.
„Ich will ihn sehen!“ Sandrine Imhof nickt, denn sie kennt ihren Sohn, wenn er sich was in den Kopf gesetzt hat, dann will er das. Egal, was es kostet. Sie steht auf und geht ins Wartezimmer.
„Sie können jetzt zu ihm, wenn Sie wollen!“, spricht sie Gregory an. Dieser steht sofort auf und folgt Rays Mutter zum Patientenzimmer.
„Danke, Frau Imhof!“, meint er, als er das Zimmer betritt. Als er den jungen Mann im Krankenbett entdeckt, verschlägt es ihm die Sprache. Wie kann man so was einem anderen Menschen antun? Wie nur?
„Hi“, flüstert Ray und bemüht sich um ein Lächeln.
„Hey … wie geht es dir?“, will Greg wissen, als er sich zum Verletzten aufs Bett setzt. Sie waren sich so nah, er hatte den Mann gehalten und hat ihn getröstet. Da wäre es jetzt komisch für ihn, neben dem Bett Platz zu nehmen. Dieses Pistaziengrün seiner Augen löst in Greg etwas aus, er kann es nicht beschreiben, nicht wirklich fassen. Er hat es schon vorher gefühlt, als er den Mann im Arm hatte und ihn hierher gebracht hatte. Die Schweine hatten ihn als Schwuchtel bezeichnet und wollten ihn vergewaltigen.
Unmenschlichkeit in ihrer brutalsten Form.
„Es geht. Ich wollte dich sehen!“, flüstert Ray, als er des fremden Mannes Hand in seine nimmt und ihn ansieht. „Wie ist dein Name?“
„Gregory oder Greg.“
„Danke, Greg. Danke, dass du mir das Leben gerettet und mich hierher gebracht hast. Danke tausendmal!“
„Dafür musst du dich nicht bedanken. Das war selbstverständlich. Ich habe die Aussage bei der Polizei bereits gemacht. Sie fahnden nach den Typen!“
„Ich weiß nicht mehr, hundertprozentig, was … was passiert ist. Haben sie … haben sie mich … ver… vergewal…“
„Nein. Ich konnte sie stoppen. Ich habe noch gesehen, wie sie deine Nase auf dem Boden zertrümmert haben und bin sofort eingeschritten. Ich habe den Kerl von dir weggezerrt und ihm einen Tritt in seinen Pimmel verpasst! Er hat dich nicht angefasst!“ Dicke Tränen lösen sich aus Rays Augen und kullern über seine Wange.
Greg lächelt liebevoll. Er streicht mit seinem Daumen die Flüssigkeit aus Rays Gesicht und legt den Kopf schräg. Zwischen den Männern geschieht etwas. In diesem Moment. Ein gemeinsames Gefühl vereinnahmt Ray und Greg. Sie wissen instinktiv, dass das der Beginn von etwas Großartigem ist. Etwas, das Konventionen sprengt und allen beweist: Liebe ist Liebe – egal welches Geschlecht sie hat!
„Kommst … kommst du mich besuchen?“, will Ray schüchtern wissen.
„Wenn du das willst, komme ich jeden Tag. Bis es dir besser geht“, antwortet Greg. Und so hat er es auch getan. Bis er mit Ray das Krankenhaus verlassen und mit ihm in ein neues, gemeinsames Leben starten konnte.