„Eine Tatsache, die mir immer wieder schmerzlich bewusst wird. Warum nur, hat sich unser Henry ausgerechnet mit diesem armen Schlucker zusammengetan und weshalb müssen die beiden auch noch heiraten?“ Diese Worte bewegen Wilhelmina dazu, sich aus der Umarmung ihres Ehemannes zu befreien und ihn direkt anzusehen. Ein Lächeln ziert ihr zartes Gesicht.
„Jetzt enttäuschst du mich aber, Lothar“, beginnt sie und zieht einen leichten Flunsch. „Du weißt doch: Wo die Liebe hinfällt … Sei doch froh, dass unser Henry glücklich ist.“
„Ich hätte nichts dagegen, wenn sie sich nur zusammen vergnügen würden, aber das hier, das geht gar nicht. Das ist eine Farce schlimmsten Ausmaßes.“ Beide, sowohl Herr und Frau Zeus schenken ihrer zukünftigen Familie ein weiteres gespieltes Lächeln.
„Sei still, Bärchen, sonst hören dich die Schmarotzer noch.“ Etwa drei Meter entfernt stehen händchenhaltend Henry und sein Zukünftiger, Igor. Ein ungleiches Paar in mehr als nur einer Hinsicht. Nicht nur, dass der aus Russland stammende Igor einer Familie angehört, die kaum finanzielle Sicherheiten mitbringt, nein, er ist auch zwei Köpfe größer und fast doppelt so schwer als der zierliche Henry. Trotz ihrer äußerlichen Unterschiede sehen die beiden überglücklich aus. Direkt daneben stehen Igors Eltern. Er, ein kaum Deutsch sprechender Arbeiter mit rissigen Händen und einem finsteren Gesicht sowie seine kleine, pummelige Ehefrau, deren Frisur an ein von Räubern geplündertes Vogelnest erinnert.
„Wie armselig“, kommentiert Lothar den Anblick.
„Hör endlich auf, dich zu grämen. Unser Sohn ist glücklich, was können wir uns als liebende Eltern mehr wünschen?“ Wilhelmina tritt zu dem verliebten Paar, legt ihre linke Hand auf die Schulter ihres Sohnes Henry und die Rechte auf die Schulter ihres künftigen Schwiegersohnes Igor. „Was für ein wundervolles Fest. Ist auch alles zu eurer Zufriedenheit?“
Sohn und Schwiegersohn in spe nicken.
Unter dem billigen Stoff von Igors Anzug, ertastet Wilhelmina die ausgeprägten Muskeln des Mannes und schaudert leicht, als sich ein Bild in ihre Gedanken schiebt: Muskelberg Igor verschwitzt, keuchend und grunzend auf ihrem sanftmütigen, zierlichen Henry. Sie zieht ihre Hände zurück, versucht sich von dem geistigen Anblick zu lösen. „Vielleicht sollten wir es langsam bekannt geben, findet ihr nicht auch?“ Henry sieht lächelnd zu seiner Mutter und nickt. „Dann kommt, lasst uns den anderen die frohe Botschaft verkünden.“ Die sechsköpfige Gruppe setzt sich in Bewegung in Richtung des Podests, das vor dem Orchester aufgebaut wurde. Die Pärchen unterbrechen ihr Tanzen, die Gespräche verstummen und die Musik verklingt, als Lothar in Begleitung seiner Ehefrau das Podest betritt. Ein Kellner bringt sich in Stellung. Auf seinem Tablett stehen gut gefüllte Champagnergläser.
„Liebe Familienangehörige, Freunde und Bekannte. Zuerst möchten wir euch sagen, wie sehr wir uns freuen, dass ihr unserer Einladung gefolgt und so zahlreich erschienen seid.“ Er sieht sich wohlwollend um, nickt dem ein oder anderen zu, bevor er seine Rede fortsetzt. „Ein freudiges Ereignis hat uns heute zusammengebracht. Mein Sohn Henry möchte seiner großen Liebe Igor heute die Frage stellen, die so viele von uns schon gestellt haben.“ Er blickt zu seinem Sohn, der leicht versetzt hinter ihm steht. „Ein großer Schritt, den deine Mutter und ich in jeder Hinsicht unterstützen. Henry, bitte.“ Auffordernd nickend tritt Lothar Zeus zwei Schritte zurück und legt seinen Arm um seine Ehefrau. Henry ergreift Igors kräftige Hand, zieht ihn ein paar Schritte nach vorn, kniet sich hin und sieht ihm direkt in die Augen.
„Igor Iwanow, als wir uns vor einem halben Jahr getroffen haben, war es für mich Liebe auf den ersten Blick und als wir uns dann unterhalten haben, wurde aus diesem ersten Gefühl Gewissheit. Ich liebe dich Igor und möchte mein Leben mit dir verbringen. Willst du mich heiraten?“ Ein Raunen geht durch die versammelten Gäste. Igor sieht zuerst zu seinen Eltern, die ihm aufmunternd zunicken und dann wieder zu Henry.
„Ja, das will ich.“ Henry steht auf und küsst seinen Igor feurig auf den Mund. Applaus lässt den Festsaal erzittern. Zustimmende Pfiffe und Rufe sind zu hören. Igor legt seine starken Arme um Henry und zieht ihn näher an sich, während ihre Lippen verschmelzen. Wilhelmina nickt dem Orchester zu, das sofort darauf wieder zu spielen beginnt. Das frisch verlobte Paar und die Eltern der Männer nehmen Glückwünsche von den Gästen entgegen, unterhalten sich mit ihnen und schütteln unzählige Hände. Henry ist derart vertieft in die Begegnungen mit Freunden, der Familie und flüchtigen Bekannten seines Vaters, dass er Igors Fehlen erst nach einer Weile bemerkt.
„Wo ist Igor?“, will er von seiner Mutter wissen. Diese schüttelt nur bedauernd den Kopf.
„Entschuldige, ich habe leider keine Ahnung, wo er ist, Henry.“
„Ivan, Miroslava, wisst ihr, wohin Igor verschwunden ist?“
„Ich ihn gesehen habe, gehen auf Toilette. Ist aber schon paar Minute her“, antwortet Ivan in gebrochenem Deutsch mit kaum überhörbarem Akzent.
„Hoffentlich hat sich der arme Junge keine Magenverstimmung eingefangen“, entgegnet Wilhelmina fürsorglich.
„Nein, machen keine Sorgen. Unser Igor hat Magen wie Bulle. Kann alles verdauen“, antwortet Miroslava in dem ähnlich brachialen Deutsch. Wilhelmina lächelt schwach.
„Ich werde ihn suchen gehen.“ Damit ist Henry Richtung Toilettenanlagen verschwunden. Wilhelmina und Igors Eltern sehen ihm noch nach, bevor sie sich weiter mit den Gästen beschäftigen. Auf seinem Weg begegnet Henry diversen Freunden, die ihn beglückwünschen und mit denen er einen kurzen Schwatz hält. Als er nach einer gefühlten Ewigkeit endlich die Herrentoilette betritt, hört er erst nichts, doch dann dringen immer lauter werdende Geräusche an sein Ohr. Ein Stöhnen. Er hält sich die Hand vor den Mund und kichert. Was sich die Leute heutzutage alles erlauben. Geschlechtsverkehr in einer öffentlichen Toilette? Also wirklich. Henry ist gerade dabei den Raum zu verlassen, als sich ein dunkler Bass in die hohen Lustgeräusche mischt. Er hält inne. Das kann nicht sein! Ich muss mich täuschen. Auf leisen Sohlen nähert er sich der Geräuschquelle und betritt die Kabine daneben. Er klappt den WC-Deckel herunter und steigt darauf. Vorsichtig zieht er sich an der Kabinenwand nach oben, um einen Blick zu riskieren. Die Geräusche werden lauter. Henry schließt kurz die Augen, unfähig sich vorzustellen, was passiert, wenn sich sein Verdacht erhärtet. Er öffnet vorsichtig die Augen, zwängt seinen Kopf weiter in die benachbarte Kabine und erstarrt. Igor und ein anderer Mann, in flagranti. Das hier passiert nicht wirklich, das kann einfach nicht sein. Der Kerl, der Aufmachung nach, ein Kellner, geht ab wie ein Zäpfchen, während Igor zustößt wie ein Bulle. Gelähmt von dem Anblick sieht Henry eine Weile einfach nur zu, bis der Kellner ihn schließlich entdeckt. Doch auch dann, kann er sich nicht bewegen. Igor folgt mit seinem Blick dem ausgestreckten Zeigefinger des Kellners und erstarrt, als er seinen Verlobten entdeckt. Sofort zieht er sich zurück.
„Henry, ich kann dir das erklären“, stammelt Igor aufgebracht, als er seine Genitalien in seine Unterwäsche zu zwängen versucht. Henry klettert zurück auf den Toilettendeckel, springt auf den Boden, öffnet die Kabinentür und tritt die Flucht an.
Er rennt einfach los.
Während sich sein Herz ausgetrocknet zusammenschnürt, quellen seine Augen vor Tränen über. Hinter ihm schlägt die Tür der Herrentoilette derart kräftig gegen die Wand, dass der Putz bröckelt. „Henry, warte doch!“ Igor ist dicht hinter ihm. Als er endlich den Arm seines Verlobten erreicht, sind sie auf der Tanzfläche angekommen. Die Gäste bilden einen Kreis um die beiden. „Es tut mir leid, Henry.“ Der Angesprochene dreht sich zu Igor um und funkelt ihn wütend an. Sein Verlobter trägt das Hemd noch immer offen und zudem deuten der offene Hosenschlitz und die gewaltige Beule auf das Stelldichein mit dem Kellner.
„Was tut dir leid? Dass du an unserer Verlobungsfeier einen Kellner fickst, oder dass du alles zerstörst? Oder vielleicht, dass du mir das Herz aus der Brust reißt? WAS, Igor, was genau tut dir leid?“ Die Menge verstummt und auch das Orchester unterbricht sein Spiel. Tränen strömen Henry über die Wangen, als er seine Mutter und seinen Vater in der Menge entdeckt. Igor greift nach Henrys Handgelenk, versucht ihn zu sich umzudrehen. Henry antwortet mit einer Ohrfeige, die einige der Zuschauer zusammenzucken lässt. „Fass mich nie wieder an.“
„Was kann ich dafür, wenn du da reinplatzt?“, beginnt sich Igor zu verteidigen.
„Wie meinst du das?“ Henrys Stimme ist schneidend, seine Augen verengen sich.
„Na, so wie ich gesagt habe, ein Mann wie ich braucht Abwechslung.“
„Abwechslung?“, wiederholt Henry entsetzt. „Du betrügst mich also schon die ganze Zeit? Seit wir uns kennen?“
„Natürlich. Dachtest du etwa, du bist etwas Besonderes?“
„Russischer Mann viel Liebe hat“, wirft Igors Vater ein. Igors Mutter jagt ihrem Mann ihren Ellbogen in die Seite und zischt ihm etwas Unverständliches zu.
„Wir sollten uns alle wieder beruhigen“, versucht Wilhelmina die aufgebrachte Stimmung zu entschärfen.
„Mutter, halt dich da bitte raus“, entgegnet Henry. „Verschwinde hier, Igor. Sofort. Ich will dich niemals wiedersehen. Du bist echt das Letzte. Mach, dass du deinen untreuen Arsch hier raus bewegst und zwar ein bisschen plötzlich.“ Henrys Stimme bebt, während Igor wild mit den Armen gestikuliert.
„Was ist mit unserer Verlobung?“, will er wissen.
„Die kannst du dir sonst wo hinstecken.“
„Aber das viele Geld“, ertönt nun die Stimme von Igors Mutter. „Igor, überlegen gut.“
„Geld?“, horcht Henry auf. „Ging es dir immer nur um das Geld meiner Familie?“
„Willst du die Wahrheit wissen?“, erkundigt sich Igor.
„Ja! Verdammt, sag mir die Wahrheit!“
„Anfangs war es tatsächlich das Geld, das mich zu dir hinzog, dann dachte ich, dass ich dich vielleicht lieben könnte, doch das Gegenteil war der Fall. Deine Familie ist eine Plage und die Feste, die deine Mutter ausrichtet, kotzen mich an. Euch tropft das Geld aus euren Ärschen und das macht mich krank.“ Henry wischt sich fahrig über die Augen.
„Also war es immer nur das verdammte Geld? Kein bisschen Liebe? Das war alles eine Lüge?“
„Was außer Geld sollte mich zu dir hinziehen? Hast du dir darüber schon einmal Gedanken gemacht? Du bist gar nicht mein Typ und überhaut langweilst du mich.“ Eine weitere Ohrfeige hallt durch den Saal.
„Du bist ein riesengroßes Arschloch, Igor!“, brüllt Henry aufgebracht, kurz bevor er sich durch die Menschenmenge kämpft und durch den Ausgang verschwindet. Zurück bleiben erstaunte Gesichter, eine schockierte Familie Zeus und eine traurige Familie Iwanow – das schöne Geld.
„Wir noch nicht gegessen, vielleicht noch kurz Zeit dafür?“, erklingt Ivan Iwanows Stimme, als er mit seinen rissigen Fingern auf das Buffet deutet und sich den Bauch reibt. Lothars Lippen beginnen zu beben, bevor es ihn fortreißt.