Wunder mit Baum
Ein schwules Weihnachtswunder
Inhaltsangabe
Egal wie sehnlich der Wunsch nach einem Kind ist, ein schwules Paar wird nicht so leicht zum Adoptionsverfahren zugelassen – der ersten Jugendamt-Mitarbeiterin klebrig und beinahe nackt unter die Augen zu treten und die zweite zu vergiften, verleiht der Situation zusätzliche Brisanz. Dennoch wird Glen und Robin am Tag vor Weihnachten der langersehnte Beschluss zugestellt. Eigentlich ein Grund zum Feiern, wenn es da nicht ein klitzekleines Problem gäbe: Tiago soll die Festtage im Waisenhaus verbringen und erst im Januar zu seiner neuen Familie kommen. Ein Umstand, den die Adoptivväter nicht akzeptieren können.
Begleitet die junge Familie auf dem umständlichen Weg zu ihrem ganz persönlichen Weihnachtswunder, an dem sie mit viel Einsatz und Nächstenliebe auch andere Menschen teilhaben lassen.
Leseprobe
„Oh mein Gott, Glen, das muss es sein. Das ist es ganz bestimmt“, kreischt Robin aufgekratzt und kaum mehr fähig, seine Gefühle zu kontrollieren, als er das offiziell anmutende Schreiben aus dem Briefkasten fischt – er wedelt damit vor Glens Gesicht herum, als wäre es ein aus Palmblättern gefertigter Fächer, der an einem Hitzetag für ein wenig Abkühlung sorgt. Faktisch handelt es sich aber um den kältesten Tag des bisherigen Jahres und das Weihnachtsfest steht kurz bevor, sprich Palmfächer benötigt niemand mehr, dafür Heizöfen.
„Beruhige dich, kleiner Hibbel.“ Glens Stimme ist wie immer tief und entspannt, was Robin natürlich nicht beruhigt, sondern vielmehr zur Weißglut treibt – wie kann ein einzelner Mensch immer so verflucht gelassen sein? Er verdreht genervt die Augen, nimmt den Umschlag in beide Hände und drückt ihn an seine Brust.
„Der ist ganz bestimmt vom Vormundschaftsgericht, da bin ich mir absolut sicher. Ich meine, hier steht ja sogar Justizministerium und nur Behörden verwenden ein solch altbackenes Papier. Es wird aber auch Zeit, die haben uns lange genug warten lassen.“ Er wirft einen hoffnungsvollen Blick in den Himmel, an dem eine seltsame Stimmung aufzieht, als ob sich Mutter Natur für den Weihnachtstag etwas ganz Besonderes einfallen ließe. Nebelschwaden ziehen am Boden entlang und lassen die Straße vor dem Wohnblock unheimlich erscheinen.
„Vielleicht bist du mal wieder zu schnell gefahren?“, bietet sein praktisch veranlagter Freund Glen an, um ihm andere Gründe für ein solches Schreiben aufzuzeigen. Diese Umsichtigkeit beantwortet Robin mit einem mehr oder weniger liebevollen Klaps auf den Hinterkopf. „Aua.“
„Geschieht dir recht. Los jetzt, bring den Einkauf rein, ich will das hier lesen“, verlangt Robin, hält die Tür auf und deutet in Richtung des Aufzugs. Es ist bitterkalt und Robin fröstelt, nur in seine Winterjacke gehüllt, vielleicht hätte er doch die Winterschuhe und warme Socken anziehen sollen.
„Es ginge bedeutend schneller, wenn du helfen würdest“, gibt Glen mit einem spitzbübischen Zwinkern zu bedenken, als er sich an Robin vorbei in das warme Innere des Wohnhauses schiebt. „Meine Finger sind ganz steif. Kommt das von der Kälte oder von den schweren Tragetaschen?“
„Mecker nicht rum, beeil dich lieber!“ Robin lässt die Tür ins Schloss gleiten, schwingt seine aus Leder gefertigte Männerhandtasche lässig über die Schulter und eilt zum Lift, den er mit einem kurzen Druck auf den Knopf herbeiruft. Den Brief hält er in seinen zittrigen Fingern, bewegt ihn unruhig hin und her. Im fünften Stock verlassen sie den Fahrstuhl. Die kahlen Betonwände sollen in ihrer Farblosigkeit wohl den modernen Eindruck des Neubaus unterstreichen, doch Robin schüttelt jedes Mal den Kopf über so viel Lieblosigkeit. Er ist heilfroh, dass die Architekten dieses Prinzip nicht auch in den Wohnungen weitergeführt haben. Während Glen die Wohnungstür mit einer schnellen Bewegung aufschließt, blickt Robin aus dem kleinen Dachfenster in den unheimlichen Himmel: Alles deutet auf Schnee hin, aber so richtig glaubt er noch nicht an weiße Weihnachten, auch wenn das die Wetterfrösche seit einer Woche vorhersagen. Einigermaßen geschickt entledigt er sich seiner Schuhe, wirft seine Tasche achtlos auf den Boden und eilt mit dem Schreiben in der Hand Richtung Wohnzimmer. Die große 4-Zimmer-Wohnung bietet genug Platz für die zwei Männer und überzeugt mit neuen Küchengeräten, einer Fußbodenheizung unter dem Parkett und einem generell sehr hohen Standard.
Glen folgt ihm mit den Einkaufstüten, nachdem er ebenfalls die Schuhe abgestreift und in seine Lieblingspantoffeln geschlüpft ist. „Komm endlich, du kannst deinen Hausschuhspleen auch später noch ausleben!“ Ungeduldig zerrt Robin Glen am Ärmel mit sich ins Wohnzimmer.
„Glaubst du wirklich, dass uns die Behörde so kurz vor den Festtagen schreibt, Robin? Ich meine, das ist doch irgendwie seltsam.“
„Weshalb? Vielleicht ist das unser kleines Weihnachtswunder.“ Robins Stimme strotzt nur so vor Hoffnung.
„Oder unser ganz persönliches Weihnachtsdrama“, nuschelt Glen, damit Robin es nicht hören kann. Er ist sich der Bedeutung des Schreibens vom Familiengericht wohl bewusst: Eine Ablehnung würde Robin zerstören und ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Inständig hofft er, dass es nicht so weit kommt. Schnaufend hievt er die schweren Tüten auf die Granitarbeitsfläche in der Küche und eilt zu Robin, der rastlos auf der Couch sitzt und auf ihn wartet – die schlanken Finger seines Lebenspartners haben sich richtiggehend verkrampft, so fest hält er die ungeöffnete Post. Sorgsam kuschelt sich Glen dazu, umarmt Robin und küsst ihn auf die Wange. „Egal, was in dem Schreiben steht, wir werden das Beste daraus machen, daran wachsen und es überstehen. Verstanden?“
„Wie kommst du nur darauf, dass sie uns ablehnen? Ich fasse nicht, wie negativ du denkst. Das Glas ist nicht halb leer, sondern halb voll. Nenn mir einen einzigen Grund, warum sie uns absagen sollten?“ Glen kratzt sich gedankenversunken am Kopf und sieht Robin tief in die Augen.
„Also mir kommt da schon der eine oder andere Grund in den Sinn. Dir etwa nicht?“
~ zwei Monate zuvor ~
„Tiago, räum bitte deinen Kram zusammen.“
„Ich habe jetzt aber keine Lust. Kannst du das nicht machen?“, erkundigt sich der kleine Mann, den sie nun schon zum fünften Mal übers Wochenende bei sich haben, um Zeit mit ihm zu verbringen. Diese Treffen mit der zukünftigen Adoptivfamilie dienen dazu, herauszufinden, ob sich das Kind mit den neuen Eltern versteht und umgekehrt. Heute steht ein weiterer Besuch des Jugendamts an und entsprechend aufgekratzt sind vor allem die potentiellen Adoptiveltern – den kleinen, aus Afrika stammenden Tiago interessiert das nämlich nicht die Bohne.
„Nein, kann ich nicht, mein Kleiner. Das darfst du schon selber machen. Aber ich kann dir dabei helfen“, antwortet Robin und lächelt sanft, als der Kleine beginnt, seine wild im ganzen Wohnzimmer verteilten Bauklötze zusammenzusuchen und in den dafür vorgesehenen Behälter legt. Gut, eigentlich liebt Robin alles, was der kleine Goldschatz macht, denn er kann sich an der Niedlichkeit des Jungen schlichtweg nicht sattsehen. Die süßen Afro-Locken, die sein Gesicht umrahmen, sein Lächeln und die Herzlichkeit, mit der er andere verzaubert, sind einmalig. Robin möchte es nicht zugeben, aber der Junge hat sein Herz schon längst im Sturm erobert. Was, wenn sie uns ablehnen, wenn wir ihn nicht adoptieren dürfen? Gedanken, die Robin bislang erfolgreich verdrängt hat, doch irgendwann muss er sich ihnen stellen. „Bist du endlich fertig, Glen?“ Sein Partner ist vor einer halben Ewigkeit im Schlafzimmer verschwunden und seither nicht wieder aufgetaucht. Dabei wollte er sich doch nur rasch umziehen.
„Neihein. Aber die kommen ja auch erst in zwei Stunden, Schatz, also bitte, nerv mich nicht jetzt schon. Ich werde rechtzeitig bereitstehen, versprochen.“
„Erst in zwei Stunden?“, lässt Robin seine Stimme einige Oktaven höher als normal schwingen. „Denkst du, dass sich Beamte an Zeitpläne halten?“
„Selbstverständlich, sonst wären es ja keine Beamte. Einmal von neun bis zehn Uhr morgens und dann noch von vierzehn bis sechzehn Uhr nachmittags. Außer mittwochs, natürlich, da bleibt das Büro geschlossen.“
„Haha, du bist heute extrem witzig, was? Jetzt los, mach dich fertig. Es wäre verheerend, wenn die jetzt schon hier aufschlagen“, antwortet Robin, eilt ins Wohnzimmer zurück, um Tiago mit den Spielsachen zu helfen. „Die Wohnung gleicht einem Schlachtfeld. Du könntest ruhig mal mithelfen, Glen.“
„So ist das halt, wenn man Kinder hat.“ Als Glen aus dem Schlafzimmer in den Flur tritt, hat er sich wenigstens schon ein Hemd übergezogen, es aber noch nicht zugeknöpft. Robin nimmt sich einen Moment, um die wohlgeformte Brust- und Bauchpartie seines Lebenspartners anzusehen und zu genießen – ein dunkler, aus feinen Haaren bestehender Schatzsucherpfad beginnt bei seinem oval geformten Bauchnabel und verschwindet, bedauerlicherweise, im Bund seiner Jeans. Wie gern würde Robin auf Tauchgang gehen, aber daran ist mit Tiago in Blickdistanz nicht zu denken. Er seufzt und begnügt sich damit, Glen auf seinen flachen Bauch zu tätscheln. Der Junge scheint sich an den hie und da ausgetauschten Zärtlichkeiten nicht zu stören.
„Nein, so ist das eben nicht, wenn man Kinder hat! Es gibt trotzdem Wege und Möglichkeiten, die Wohnung sauber und aufgeräumt zu halten.“
„So wie ich das von hier aus beurteilen kann, machst du das doch sehr gut, Schatz.“
„Blabla, jetzt komm schon, hilf mal“, kritisiert Robin.
„Das schaffst du doch ganz gut ohne mich. Wie du ja weißt, habe ich im Gegensatz zu dir keinen Putzfimmel, dem ich wie ein Sklave diene. Glaubst du wirklich, dass hier alles picobello sein muss, wenn uns die Tante vom Jugendamt einen Besuch abstattet? Hier wird gelebt und gespielt, da dürfen auch ein paar Spielsachen rumliegen. Wir wohnen ja nicht in einem Museum.“
„Ja“, zischt Robin. „Ich find schon, dass es hier aufgeräumt sein sollte. Ach, es hat keinen Sinn mit dir da drüber zu diskutieren.“ Unbeeindruckt von den Worten seines Lebenspartners, lässt Robin das Plüschtier, das er in den Händen hält, in die Kiste gleiten. „Außerdem habe ich keinen Putzfimmel!“
„Wenn du das sagst.“
„Ja, ich …“
„Ich hab so Durst. Ich will den leckeren Saft haben“, meldet sich der kleine Tiago zu Wort. Robin atmet tief durch, lächelt den Knaben an und nickt. Sie sollten doch nicht vor dem Jungen streiten, obwohl: So eine richtige Meinungsverschiedenheit war das nun auch wieder nicht.
„Ja, natürlich, Tiago. Warte, ich mache dir deinen Becher voll.“ Er unterbricht die großangelegten Aufräumarbeiten im Wohnbereich für einen Moment und gießt dem Jungen Orangensaft ein. „Ich weiß doch, wie gern du den magst, aber nur den mit der von der Sonne angestrahlten Orangen.“
„Jaa, Sonne, lecker Saft. Danke“, murmelt der zuckersüße Junge mit dem herrlich krausen Haar, bevor er einen kräftigen Schluck nimmt. Robin streicht ihm gedankenversunken durch die Locken, die sich zwischen seinen Fingerkuppen wie Seide anfühlen, und lächelt ihn zufrieden an.
„Hilfst du mir jetzt bitte?“, versucht er es dann erneut.
Glen sieht sich seufzend um.
„Unsere Wohnung ist perfekt. Ich weiß gar nicht, was du hast. Es gibt nichts, das man noch aufräumen müsste.“ Robin verschränkt genervt seine Arme und zieht einen Flunsch. Glen geht grinsend auf seinen Partner zu, nimmt ihn in die Arme und küsst ihm die Stirn.
„Ach, Schatz. Du machst dir viel zu viele Gedanken. Alles wird gut. Okay?“ Langsam verschließen sich ihre Lippen zu einem zärtlichen Kuss.
„Also gut, du hast recht. Ich bin nur so verflucht aufgeregt und hoffe inständig, dass alles klappt. Darum kann ich einfach nicht stillsitzen. Es soll schließlich alles perfekt sein.“
„Ich weiß, Schatz, ich kenne dich nun weiß Gott lange genug. Unsere Wohnung ist schön so, wie sie ist, und es gibt nichts daran auszusetzen.“ Die Männer intensivieren ihre Umarmung, aber als Robin seinen Kopf an Glens Brust legt, drängt sich Tiago zwischen sie.
„Ich will auch“, ruft er aus und klammert sich an den Hosenbeinen der Männer fest. Sie lachen und heben den Knaben hoch, um ihn in ihre Umarmung einzuschließen. Ein perfekter Moment zwischen drei ganz unterschiedlichen Menschen, die sich in dieser großen, weiten Welt gefunden haben. In diesem Moment und vor lauter Freude verliert Tiago den Halt an seinem Plastikbecher. Der goldgelbe Inhalt schwappt aus dem Gefäß und ergießt sich zwischen den Männern.
„Oh nein“, ruft Robin aus, der den Saftunfall als erster auf seiner Haut spürt. Mit einer flinken Bewegung nimmt er Tiago den Becher aus der Hand, während Glen den kleinen Mann zurück auf den Boden stellt. „Überall dieses klebrige Zeug. Igitt“ Genervt und gleichzeitig angeekelt tastet sich Robin ab.
„Entschuldigung“, murmelt Tiago, der nicht nur seine baldigen Adoptivväter, sondern auch sich selbst, über und über mit Orangensaft bekleckert hat. Der Kleine steht mit traurigem Gesichtsausdruck zwischen den Männern und reibt sich mit seinen kleinen Fäusten die Augen.
„Das ist doch nicht deine Schuld“, beschwichtigt Glen seinen Schützling und auch Robin schüttelt den Kopf, während er in die Knie geht, um dem Jungen in die Augen zu sehen.
„Alles ist gut, Tiago, mach dir keine Gedanken, Kleiner. Es ist ja nichts Schlimmes passiert. Ich gehe mich jetzt mal umziehen. Glen sucht dir neue Sachen raus und dann ist es, wie wenn nichts gewesen wäre. Was hältst du davon?“ Tiago hat den Kopf noch immer gesenkt, will niemandem in die Augen sehen – was muss dem Jungen zugestoßen sein, dass er derart verängstigt reagiert? Robin umfasst das Kinn des Knaben und lässt ihn aufblicken. Als sich die hellgrünen Augen von Robin mit den beinahe schwarzen von Tiago treffen, entspannt sich der Knabe wieder. „Alles in Ordnung, Tiago. Glaube mir, ich habe auch schon Saft verschüttet. Das kommt vor. Einfach umziehen und fertig.“ Ein zögerliches Lächeln breitet sich auf Tiagos feinem Gesicht aus. „Gut?“ Zu dem putzigen Lächeln gesellt sich jetzt ein freudiges Nicken. „Gut, dann los, ihr zwei.“
„Gibst du mir die Hand?“, erkundigt sich Glen bei Tiago. Dieser nickt erneut und reicht dem Riesen seine kleine Hand. Während Robin die Sauerei auf dem Boden mit einem Lappen beseitigt und den Saft in den Abfluss kippt, zotteln sein Partner und der kleine Junge Richtung Kinderzimmer davon. Dieses herzzerreißend liebenswerte Bild zaubert ein zufriedenes Lächeln auf Robins Gesicht. Nachdem er den Lappen ausgewrungen hat, fällt sein Blick auf den Wohnzimmerboden. Da liegen noch immer Spielsachen. Ein Klingeln an der Tür reißt ihn aus seinen Gedanken.
Die Tante vom Jugendamt! Jetzt schon?
Hastig wirft er den Deckel der Spielzeugtruhe zu, die er schon seit Kindesbeinen an besitzt und in die er mit Tiago die Spielsachen gelegt hat. Er sieht an sich hinab: Sein Oberteil hat sich regelrecht mit dem Saft vollgesogen, während seine Jeans unnatürlich fleckig aussehen. Was man freilich nicht sieht, aber fühlt, ist die extrem unangenehme Klebrigkeit auf der Haut. „Das ist das Jugendamt“, brüllt er durch die Wohnung Richtung Kinderzimmer.
„Was du nicht sagst“, kommentiert Glen diese Offensichtlichkeit, während er aus dem Kinderzimmer tritt und endlich sein Hemd zuknöpft. Tiago trägt bereits eine neue Hose – diese kleinen Höschen sehen einfach zum Verlieben süß aus –, jedoch kein Oberteil.
„Tiago nicht“, ruft Robin, als der Junge Richtung Wohnungstür losrennt. Mit einem beherzten Schritt versucht Robin seinem Schützling zu folgen – vielleicht kann ich ihn noch aufhalten –, doch alles kommt anders als geplant. In der Hektik des Moments tritt er auf etwas Hartes, das sich durch den Stoff der Socke in seine Fußsohle bohrt, es fühlt sich wie … ja, wie ein Spielzeugauto an. „Aua.“ Er rutscht aus und verliert den Halt. Kein Ausfallschritt der Welt kann diesen Sturz jetzt noch aufhalten.
Nein!
Die kurze, tanzähnliche Einlage wird jäh unterbrochen, als Robin auf dem Fußboden aufschlägt. Ein markerschütterndes Poltern hallt durch die gesamte Wohnung und dürfte auch auf dem Gehweg noch zu hören sein. Glen ist bereits auf dem Weg zu seinem verunfallten Liebling und kniet sich kurz darauf neben ihm. „Alles in Ordnung?“, will er aufgekratzt wissen.
„Aaaah“, stöhnt Robin und hält sich den unteren Rücken. „Verdammt. Aua.“
„Nichts gebrochen?“
„Woher soll ich das wissen?!“, zischt Robin. „Keine Ahnung, das wird sich gleich herausstellen. Hilfst du mir bitte mal auf?“
„Natürlich, komm.“ Mit Glens Hilfe schafft es Robin zurück auf die Füße. „Das ist der Grund warum ich immer sage, du sollst Pantoffeln …“
„Wenn du diesen Satz beendest, Freundchen, erlebst du das Morgengrauen nicht mehr“, faucht Robin zornig und schmerzerfüllt, während er Glens helfende Hand abschüttelt und Haltung annimmt. „Schnell, geh endlich zur …“
Ein Räuspern unterbricht ihre Unterhaltung.
Die Blicke der Männer wandern ganz langsam in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen ist. Als sie den Blick der Beamtin des Jugendamts auffangen, schlucken sie trocken. Die hagere Frau trägt ein ihrer Figur nicht sehr zuträgliches, graues Kostüm. Die teils ergrauten Haare, die sie zu einem Knoten zusammengebunden hat und die kleine Brille auf ihrer Nase unterstreichen ihre Strenge. An einer Hand hält sie Tiago, während sie mit der anderen Hand ihre Ledermappe fast schon krampfhaft umklammert. Ihr Blick schweift kurz durch die Wohnung, bleibt dann an Glen hängen, der sein Hemd im Eifer des Gefechts falsch zugeknöpft hat, bevor ihr Blick zu Robin wandert, dessen Oberteil und Hose noch von dem tragischen Orangensaftunfall zeugen. Tiago indes trägt wenigstens eine Hose und Socken, wenn auch kein T-Shirt und seine kleinen Patschhändchen sind bestimmt klebriger als ein Lolli. Robin schließt die Augen und atmet tief durch.
Jackpot.
~ zurück ins Heute ~
„Also bitte, das war doch nichts weiter, als ein bedauerlicher Unfall. Sie werden doch nicht ein einziges, verdammtes Missgeschick gegen uns verwenden oder?“
„Da hast du natürlich recht. Ich möchte nur, dass du dich auf die Eventualität vorbereitest, dass es möglicherweise nicht …“
„Nein, daran will ich gar nicht denken. Wir sind gute Eltern, denn wir lieben den Jungen jetzt schon, als wäre er unser Kind.“
„Ja, das tun wir. Nur leider habe ich noch immer ihren Blick vor Augen, wie sie uns angestarrt hat. Sie war mehr als schockiert. Erschwerend kommt der Fakt hinzu, dass wir die ersten gleichgeschlechtlich liebenden Eltern in dieser prüden Stadt wären, die ein Kind adoptieren.“
„Meine Güte, das sollte jetzt also wirklich kein Problem mehr sein, nachdem die Regierung die Gesetze angepasst hat, haben wir das gleiche Recht, wie jedes verdammte Heteropaar.“
„Ich sage ja nur.“
„Denk positiv, Bärchen. Wir haben uns sonst nichts zu Schulden kommen lassen, waren ganz vorzeigbare Eltern und auch an unserer Wohnung gibt es nichts auszusetzen.“
„Das ist aber auch nicht ganz korrekt, Robin. Du weißt doch noch, das zweite Mal, als uns eine Tante vom Jugendamt besuchen gekommen ist.“
„Oh, das. Mist, das habe ich doch glatt vollkommen verdrängt.“
~ einen Monat zuvor ~
„Sie haben Ihre Wohnung wirklich ganz hervorragend auf ein Kleinkind ausgerichtet, meine Herren, dass muss ich schon sagen“, beginnt Frau Konrads wohlwollend nickend, als sie sich in den Räumen umsieht.
Robin strahlt vor Stolz.
„Nachdem, was ich von meiner Kollegin gelesen habe, hätte ich das nicht erwartet. Aber anscheinend kam sie einfach zu einem gänzlich unpassenden Zeitpunkt.“
„Ein kleines, unbedeutendes Missgeschick“, wirft Glen lächelnd ein. „So etwas kann mit Kindern schon mal geschehen oder etwa nicht?“
„Selbstverständlich. Meine Kollegin neigt auch stets zu Übertreibungen, weshalb ich mir selbst ein Bild machen wollte.“
„Das freut uns außerordentlich. Darf ich Ihnen eine Hefeschnecke anbieten?“, möchte Robin, den Teller mit der zuckrig süßen Köstlichkeit bereits in der Hand, wissen. „Selbstgemacht, natürlich.“
„Darf ich auch eine haben?“, wirft Tiago ein und greift mit seinen kleinen Patschhändchen bereits nach dem Teller.
„Natürlich, Schatz. Aber erst bekommt der Gast einen Teller.“ Der kleine Junge zieht einen Flunsch und verschränkt die Arme, was den Erwachsenen ein Lachen entlockt. Nachdem jeder einen Teller vor sich stehen hat, wird es ruhig am Tisch. Die Erwachsenen trinken Kaffee oder Tee, während Tiago an einem Becher mit Limonade nippt.
„Sind hier Mandeln drin?“, erkundigt sich die Beamtin leicht besorgt, als sie die Schnecke mit der Gabel inspiziert.
„Nein, nur Haselnüsse. Reagieren Sie allergisch auf Mandeln?“
„Ja, leider, dabei wären sie so lecker. Aber Haselnüsse sind lustigerweise kein Problem. Die meisten Allergiker reagieren auf alle Nussarten, ich zum Glück nur auf die Mandeln, obwohl das ja eigentlich gar keine Nüsse sind. Aber ich könnte gut auf die Allergie verzichten“, führt Frau Konrads aus, bevor sie mit der Gabel ein Stück Hefegebäck abtrennt und zu ihrem Mund führt.
„Die schmecken ausgezeichnet“, meldet sich Glen zu Wort, der Robin stolz auf die Schulter tätschelt. Dann lehnt er sich über den Tisch und gibt seinem Lebenspartner einen Schmatzer auf den Mund. Die Beamtin beobachtet die Männer und die Reaktion des Jungen genau, bevor sie schluckt.
„Ich finde es schön, wie Sie miteinander umgehen. Für das Jugendamt ist das noch ziemlich neu, dass gleichgeschlechtliche Paare ein Kind adoptieren, aber ich sehe da keine Probleme. Wenn Sie offen damit umgehen, wird Tiago damit klarkommen, weil er nichts anderes kennt. Sie machen das ganz wunderbar, auch mit dem Jungen.“
„Vielen Dank. Er hat unsere Herzen im Sturm erobert. Er ist ein richtiger Sonnenschein und wir hoffen sehr, dass wir einen positiven Bescheid bekommen.“ Frau Konrads nimmt einen weiteren Bissen von der Hefeschnecke, schließt dann kurz die Augen und stöhnt ihr Entzücken in den Raum – ein Geräusch, das beinahe so süß, wie die Hefeschnecke ist.
„Dieses Gebäck ist außerordentlich gut. Ich liebe es. Sie hätten Konditor werden sollen.“
„Vielen Dank“, entgegnet Robin und spürt, wie er rot anläuft. „Aber ich bin in meinem Job als Reisekaufmann vollkommen zufrieden.“
„Man sollte immer das machen, was einem Spaß macht. Aber wo sind wir stehen geblieben? Ach ja, wenn wir nach diesen paar Wochenenden der Meinung sind, dass Sie als Adoptiveltern geeignet sind, werden wir die entsprechenden Formalitäten erledigen. Sobald das Familiengericht dem Ganzen zustimmt, beginnt die einjährige Zeit der Adoptionspflege. Sie haben dann zwar noch nicht das Sorgerecht, aber Tiago wird bei Ihnen leben und Sie sind für ihn verantwortlich. Diese Zeit ist ausgesprochen wichtig für das Eltern-Kind-Verhältnis. Es ist elementar, dass Sie sich mit Tiago wohlfühlen und er sich mit Ihnen.“ Die Beamtin unterbricht ihre Rede, um sich am Hals zu kratzen und sich zu räuspern. „In dieser Zeit werden wir vom Jugendamt Sie eng begleiten und dafür sorgen, dass sich Tiago bestmöglich einleben kann. Nach Ablauf dieser Jahresfrist entscheidet das Vormundschaftsgericht über die endgültige Adoption.“ Sie unterbricht sich erneut und räuspert sich. Ihre Wangen glühen förmlich und ihre Augen tränen.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, erkundigt sich Glen besorgt.
„Doch, nein, also irgendwie, ich … bekomme ganz schlecht Luft“, japst die Beamtin, deren Kopf mittlerweile hochrot angelaufen ist. „Sind Sie sich ganz sicher, dass da keine Mandeln in der Hefeschnecke sind?“, will sie an Robin gerichtet wissen. Der steht auf und hastet vom Essezimmer in die angrenzende Küche – Wohn-, Esszimmer und die Küche bilden in der Wohnung eine Einheit –, um im Mülleimer die Verpackung der Nüsse hervorzuholen.
Glen indes reicht der Beamtin ein Glas mit Wasser.
Endlich findet Robin die Verpackung und beginnt vorzulesen: „Haselnüsse gemahlen, blablabla, Haltbarkeitsdatum, blablabla, Allergieinformationen: Kann Spuren von Mandeln enthalten. Das darf doch nicht wahr sein! Das habe ich nicht gewusst. Was für ein Mist!“ Wie von einer Tarantel gestochen, springt die Beamtin auf – eine Gabel scheppert zu Boden – und verlässt fluchtartig den Wohnbereich Richtung Eingang. Glen, Robin und der kleine Tiago folgen ihr. Hastig reißt sie ihre Handtasche von der Garderobe, öffnet sie und wühlt nervös in den Fächern. Ihre Bewegungen werden immer verzweifelter. Schließlich zaubert sie ein kleines Döschen hervor, das sie mit zittrigen Fingern zu öffnen versucht.
„He-helfen Sie … Sie mir b-bitt…“, hechelt sie mit tränenüberströmtem Gesicht. Das Weiß in ihren Augen wurde durch Rot ersetzt und kann es sein, dass ihre Lippen geschwollen sind? Die Männer helfen ihr zurück ins Esszimmer. Robin reicht ihr das Wasserglas, während Glen den Behälter ohne Probleme öffnet und ihr die Tablette in die Handfläche legt. Gierig wirft sie die Pille ein und spült sie hinunter.
„Bitte entschuldigen Sie, das tut mir echt leid. Ich bin davon ausgegangen, dass da nur Haselnüsse drin sind. Das war keine Absicht, ehrlich. Ich wollte das nicht“, redet Robin auf sie ein, während sie mit geschlossenen Augen und wild atmend in ihrem Stuhl hängt. In ihrer Verzweiflung hat sie die obersten Knöpfe ihrer Bluse geöffnet und fächert sich Luft zu. Sie ist schweißüberströmt. „Wenn ich geahnt hätte, dass darin Spuren von Mandeln enthalten sein können, dann hätte …“
„Geht es Ihnen schon besser?“, erkundigt sich Glen besorgt, während Tiago weiter seine Hefeschnecke vertilgt. Gierig wie das kleine Schleckmäulchen ist, hat er bereits den Teller der Jugendamtsmitarbeiterin zu sich gezogen und verspeist nun auch ihr Gebäck mit absoluter Hingabe. Mit vollem Mund murmelt er dann: „Ist wirklich lecker. Ich mag die Schnecken.“
~ zurück ins Heute ~
„Meine Güte, es kann ja niemand ahnen, dass in einer Haselnusspackung auch Mandeln drin sein können und sie darauf reagiert, wie eine Brausetablette in Wasser“, verteidigt sich Robin vehement. Als die beiden daran zurückdenken, brechen sie in schallendes Gelächter aus. „Okay, okay. Sie hätten wohl genügend Gründe, uns keinen fünfjährigen Jungen anzuvertrauen. Aber hey, es gibt tausend Gründe, die dafürsprechen.“ Die Männer küssen sich auf den Mund.
„Dann öffne den Brief endlich.“
„Okay.“ Mit dem Finger beginnt Robin den Verschluss aufzureißen, kommt aber nur langsam voran.
„Meine Güte, gib halt her“, murmelt Glen, nimmt Robin den Brief aus der Hand und reißt ihn mit einer einzigen Bewegung auf. „So, hier.“
„Danke, du Pascha“, giftet Robin zurück, bevor er den Brief auffaltet. „Er ist vom Vormundschaftsgericht“, beginnt Robin. „Ich bin so nervös, ich … ich kann ihn nicht vorlesen.“
„Dann gibt ihn mir.“ Da ist sie wieder, diese verfluchte Gelassenheit. Nachdem Robin den Brief Glen überreicht hat, beginnt dieser vorzulesen. „In der Adoptionssache zwischen Robin Brink, Glen Brink und Tiago M’Bulelo hat das Amtsgericht in enger Zusammenarbeit mit dem hiesigen Jugendamt folgenden Beschluss gefasst.“ Glen pausiert, atmet tief durch und blickt dann wieder auf den Brief. „Basierend auf der gesetzlichen Grundlage der §§ 1741 ff. BGB wird der Beschluss gefasst, dass Tiago M’Bulelo für die Frist von einem Jahr zu Familie Brink in die sogenannte Adoptionspflege kommt.“ Robin springt von der Couch auf und ein Freudenschrei entweicht ihm.
„Oh mein Gott. Wirklich? Lies nochmal!“ Glen ist in der Zwischenzeit ebenfalls aufgestanden. Die Männer halten sich an den Händen.
„Für die Frist von einem Jahr zu Familie Brink in die sogenannte Adoptionspflege kommt.“ Kreischend und freudestrahlend umarmen sich die Männer, drücken sich fest aneinander und springen gleichzeitig auf und ab.
„Aua“, murmelt Robin.
„Was ist?“
„Iff hab mir auf die Funge gebiffen. Kannft du nicht aufpaffen?“
„Oh, entschuldige bitte.“
„Doofie. Lies weiter!“
„Das Sorgerecht verbleibt während dieser Frist beim zuständigen Jugendamt. In dieser Zeit werden regelmäßige Kontrolltermine stattfinden, bei denen besonders auf das Kindeswohl geachtet, aber auch dokumentiert wird, wie das Zusammenleben gestaltet wird. Unter Berücksichtigung all dieser Protokolle und nach Rücksprache mit dem Jugendamt, berät das Gericht über die definitive Adoption“, beendet Glen das Zitieren des offiziellen Schreibens.
„Wow, geil. Wir haben es geschafft! Die erste Hürde haben wir genommen. Wir kriegen unseren kleinen Schatz für ein Jahr.“ Robin ist außer sich vor Freude. Er strahlt übers ganze Gesicht und ist einfach nur glücklich.
„Das ist der Wahnsinn, nicht wahr?“
„Das ist der Oberhammer. Genial. Ich freu mich so: Wir kriegen ein Kind.“
„Unser Traum geht endlich in Erfüllung.“
„Das stimmt, aber ich kann es noch gar nicht wirklich glauben. Kneif mich mal bitte. Ich bin so unglaublich glücklich, und das so kurz vor Weihnachten. Ein kleines Wunder.“
„Wem sagst du das? Gott, wie herrlich. Ich kann es kaum erwarten. Wir werden Tiago nach Strich und Faden verwöhnen, Ausflüge und Urlaube mit ihm unternehmen. Das wird fantastisch.“ Vor lauter Freude verfallen die beiden ins Pläne-schmieden – was gibt es Schöneres in so einer Situation?
„Gehen wir gleich los? Wir müssen ihn doch noch abholen, ich meine, morgen ist Weihnachten.“ Glen liest das Papier noch einmal etwas genauer, sucht nach dem entsprechenden Datum und findet es im zweitletzten Abschnitt. „Haben wir alles für den kleinen Racker? Oder brauchen wir noch etwas?“
„Oh.“ Glens Stimmung fällt in sich zusammen, was Robin nicht verborgen bleibt.
„Was ist?“
„Scheiße.“
„Sag endlich, was ist los?“ Robin kann kaum ruhig stehen, will endlich wissen, warum Glen derart komisch reagiert.
„Die Zeit der Adoptionspflege beginnt zum Ersten des neuen Jahres“, zitiert Glen das Schreiben. Stille breitet sich zwischen den Männern aus.