Wir warten in sicherem Abstand zur Bank und beobachten die Polizei dabei, wie sie sich dem Geldinstitut nähert. Jetzt geht alles sehr schnell. Nach ein paar wüsten Beschimpfungen wird Dave in Handschellen abgeführt. Durch seinen verbalen Ausbruch hat er sich wohl noch tiefer reingeritten, was mir ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Ich habe lange gehadert und doch muss ich zugeben, dass Mike recht hatte. Ich konnte einfach nicht zusehen und nichts tun. Nicht bei Dave und schon gar nicht nach dem, was er getan hat.
Als Dave mit milder Gewalt in den Streifenwagen gedrückt wird, sieht er auf und findet zielsicher meinen Blick. Meine Augen weiten sich vor Entsetzen und Angst. Er hat mich entdeckt. Shit. Seine Miene verfinstert sich und erneut tritt dieses bedrohliche Versprechen auf seine Gesichtszüge.
Ich wende mich ab.
„Kommt, lasst uns gehen.“ Mike und Carmen nicken. Nach einer kurzen Wartezeit fährt die Straßenbahn in die Haltestelle. Als ich die Bahn betrete, schießt mir das Erlebnis von heute Morgen für einen flüchtigen Moment durch den Kopf. Ich sehe die alte Frau vor mir, höre ihre tadelnden Worte und muss unwillkürlich grinsen.
„Du denkst an den ‚Unfall‘, Oli, oder?“, kommt es von Carmen. Ich nicke.
„Was für einen Unfall?“, will Mike mit großem Interesse wissen. Den Teufel werde ich tun und es ihm sagen. Leider habe ich meinen Plan ohne Carmen gemacht.
„Oli wurde beim Einsteigen in die Bahn eingeklemmt und hat sich beinahe in die Hose gemacht, als …“ Ich verziehe mein Gesicht zu einer wütenden Fratze und bedeute Carmen mit den Händen, dass ich sie erwürge, wenn sie diesen Satz beendet. Sie verstummt augenblicklich. Einer Intuition folgend wandert Mikes Blick blitzschnell zu mir. Ein bisschen zu spät beende ich meine pantomimischen Versuche und lächle ihn bemüht lässig an.
Er prustet los.
Carmen und ich lachen mit. „Du bist eine Nummer für sich, Oli“, feixt Mike. Ich verdrehe die Augen und antworte nicht darauf.
„Ist es okay, Oli, wenn ich dich mit Mike heimfahren lasse, oder willst du, dass ich dich begleite?“, will Carmen nach einer Weile wissen. Ich blicke auf und sehe auf dem Fahrtendisplay, dass wir bei ihr Zuhause sind.
„Mir geht’s soweit gut, du musst dir keine Sorgen machen.“
„Danke, Oli. Wir reden morgen.“ Carmen steht auf, haucht mir ein Küsschen auf die Stirn und verabschiedet sich mit einem Händedruck von Mike. Als die Türen aufgehen, huscht Carmen in einem Schwall von ungezähmten Haaren in die Nacht hinaus. Weiter geht die Fahrt. Das gleichmäßige Ruckeln der Bahn, wirkt beruhigend auf mich. Ich betrachte Mike möglichst unauffällig und erstarre, als sich unsere Blicke wie durch Zufall treffen. Seine blauen Augen sind wunderschön. Mike lächelt mich sanft an, was mir ein dümmliches Grinsen aufs Gesicht zaubert. Ich kann es nicht verhindern. Als die mechanische Stimme unsere Haltestelle ansagt, werden wir beide aus einer Art Trance gerissen. In der allerletzten Sekunde verlassen wir die Straßenbahn und stehen schon bald vor dem fünfstöckigen Wohnblock, in dem wir wohnen. Mike bewohnt die Dachgeschosswohnung, während meine Mutter und ich im zweiten Stock wohnen. Er hält mir die Tür auf. Ein bisschen zu nah, gehe ich an ihm vorbei ins Treppenhaus. Ich liebe sein Parfüm.
„Danke nochmals für deine Hilfe“, sage ich, bevor ich ihm ein Küsschen auf die Wange hauche. Er riecht gut. Oh Gott, ich habe ihn einfach geküsst. Verdammt. Es war so eine Art Reflex und es hat sich verdammt richtig angefühlt. Beinahe augenblicklich schießt mir Röte ins Gesicht. Zum Glück ist das Treppenhaus eher dürftig beleuchtet, so sieht er es vielleicht nicht. „Einen schönen Abend“, flüstere ich, bevor ich die Treppe hochrenne und ihn stehen lasse – genug der Peinlichkeiten für einen Tag.
Leise schließe ich die Wohnungstür auf und betrete den Flur. Es ist dunkel in der Wohnung, also schläft Mama bereits. Wenige Minuten später liege ich mit Boxershorts bekleidet im Bett und ziehe die Decke über meinen Körper. Dieser Tag hat mich all meine Kraft gekostet. Zum Glück ist morgen Samstag, da kann ich ausschlafen und alles vergessen.
Wenige Minuten später schlafe ich ein.